Migrare necesse est

BeiträgerInnen unterschiedlicher Disziplinen aus sechs europäischen Ländern denken über „Figurationen antiker Mythen“ in Literatur und Kunst vor allem des 19. Jahrhunderts nach

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von dem Freiburger Germanisten Ralph Häfner und dem Genfer Romanisten und Komparatisten Markus Winkler herausgegebene, auf eine internationale Tagung zurückgehende Band Götter-Exile versammelt, inklusive der „Einleitung“ der Herausgeber, fünfzehn dank sprechender Titel thematisch klar identifizierbare und leicht zu gruppierende Einzelbeiträge. Von daher wohl verzichtet der Band auf eine weitere, explizite Gliederung.

Ein sorgfältig erstelltes Personenregister beschließt den Band, dessen Gebrauchswert durch ein Sach- und Werkregister und durch farbige Abbildungen allerdings noch ausgeprägter hätte ausfallen können. Bio-bibliographische Hinweise auf die BeiträgerInnen sind ganz gewiss kein Muss, hätten aber im Einzelfall diesbezügliche Recherchen erspart.

Götter-Exile knüpft der eher knappen „Einleitung“ nach an die Überlegungen und Arbeiten von Jean Seznec und des Netzwerks Polymnia zur Rezeption der paganen Götter und Mythen in Literatur und bildender Kunst an. Es soll – ambitioniert und bescheiden zugleich – „im interdisziplinären Gespräch“ mithilfe „einzelner >Fallstudien<“ insbesondere „das produktive Wechselverhältnis zwischen Mythenforschung einerseits und Literatur und den Künsten andererseits“ herausgearbeitet werden, mit dem Ziel, „die intellektuellen Prozesse, wissenschaftsgeschichtlichen Ausdifferenzierungen und sozialen Kontexte der Transformation mythographischen Wissens in unterschiedlichste Formen der Literatur und der Künste besser zu verstehen.“

Raumzeitlich stehen dabei – häufigere Rückgriffe auf davor liegende Jahrhunderte in den Einzelbeiträgen verstehen sich – literarische und künstlerische Konzeptualisierungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland im Zentrum. Doch geraten am Beispiel von Lafcadio Hearn und Hanns Henny Jahnn auch Japan zum einen und die Mitte des 20. Jahrhunderts zum anderen in den Blick.

Thematisch hingegen steht in der Mehrzahl der Einzelbeiträge die mythographische Denkfigur „Die Götter im Exil“ im Vordergrund, die Heinrich Heine immer wieder bedacht und dargestellt hat, zuletzt im späten gleichnamigen Prosatext. In diesem Zusammenhang weisen die Herausgeber zu Recht auf die hohe Bedeutung der Hegelschen Geschichtsphilosophie für die zur Rede stehenden Konzeptualisierungen hin. Diese habe als vielgestaltige Grundierung der „Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts“ nicht nur auf Heine und seinen Vermittlungsversuch von christlichem Monotheismus und paganem Polytheismus gewirkt, sondern auf Literatur und Künste generell.

Linda Simonis (Bochum) geht in ihrem erhellenden, differenziert argumentierenden und politisch bzw. kulturpolitisch (Perikles, Philhellenismus, Neoklassizismus) aufschlussreich kontextualisierenden Beitrag Die entführten Götter – die Parthenon Figuren [sic!] im britischen Exil dem zeitgenössischen „Für und Wider“ (Parlamentskommission 1816; Byrons The curse of Minerva, 1812) und den epochalen „kulturellen und ästhetischen Folgen“ nach, die aus Lord Elgins „Entführung“ von Figurengruppen aus dem Parthenon-Tempel nach England 1802 bis 1812 hervorgingen. Simonis zeigt detailliert, wie die „Situation des musealen Exils“ bei signifikanten Rezipienten wie Benjamin Robert Haydon, Heinrich Füssli und John Keats akzentueller Unterschiede zum Trotz zu einer „Autonomisierung[]“ des Ästhetischen der als autark wahrgenommenen „Elgin Marbles“ und zu einer Zurückdrängung von deren ursprünglichem kultischen und politischen Gehalt geführt hat.

Der mehrsträngige, auch hinsichtlich von Themen wie „»Diana« auf der Tanzbühne“, Wagners Tannhäuser (Pariser Fassung) oder „Ausdruckstanz“ zahlreiche Fakten und Querverweise versammelnde Beitrag Götter im Exil im Frankreich der 1840er und 50er Jahre: Heinrich Heines „Göttin Diana“ im Kontext von Marie-Ange Maillet (Paris) thematisiert die „Wandlungen der Diana-Figur bei Heine“ und die „Eigentümlichkeit seiner Behandlung […] gegenüber dem tradierten Mythos“. Insbesondere beschäftigt er sich mit Heines Ballett-Libretto Die Göttin Diana (1846) und anhand des darin prominenten „Bacchanal-Motiv[s]“ mit der Frage, welche „Schwierigkeiten“ diese „Apotheose der Lebenslust“ für eine Aufführung bot. Maillet spricht dem Libretto wohlbegründet ein hohes Maß an „Originalität“ zu, allerdings auch an „Unzeitgemäß[heit]“, waren doch die Vorstellungen des Autors von Tanz und Schicklichkeit mit denjenigen der ZeitgenossInnen nicht vereinbar.

Douglas Hedleys (Cambridge) profunder Beitrag S.T. Colderidge’s „On the Prometheus of Aeschylus” skizziert unter besonderer Berücksichtigung der im Titel genannten, auffälligerweise allein am philosophischen Gehalt von Aischylos‘ Text interessierten Vorlesung vor der Royal Society of Literature im Jahr 1825 die Beziehungen zwischen dem mythentheoretischen Denken von Coleridge, Georg Friedrich Creuzer und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Letztere, seine „primary German sources“, habe der mit einem theologischen Synkretismus sympathisierende Coleridge für deren sich gegen die Aufklärung wendende, radikale Aufwertung der Mythen als Erkenntnisquelle bewundert. Im Einzelnen geht es bei den Vergleichen um antike griechische Mysterienkulte, um das genauere Verhältnis zwischen Creuzer und Schelling, um antike Theologie, um samothrakische Mysterien und göttliche Vielgestalt und um die „Platonic dimension“ von Aischylos.

Zu den „meistadaptierten Sujets antiker Mythologie“ in der europäischen Literatur, bildenden Kunst und Musik gehört Proserpina. Damit setzt sich Philipp Redl (Freiburg) in Proserpina im langen 19. Jahrhundert – von Goethes Monodrama zu Gides Melodrama souverän auseinander. Mit einschlägigem Erkenntnisgewinn werden vor allem Mythenentwürfe diskutiert, „die dem jeweils zeitgenössischen Proserpina-Bild bis dato ungesehene Züge hinzufügen.“ Das sind für Redl Wilhelm Heinses „erotisches“, „heiter-fröhliche[s]“ Gedicht Die Schöpfung Elysiums (1774), Goethes „weitgehend folgenlos“ bleibendes, tragisch dimensioniertes Psychogramm Proserpina (1777) und André Gides sehr unterschiedliche Proserpina-Versionen Proserpine (1912, 1933) und Perséphone (1934). In diese seien auch Konzeptionalisierungen von Friedrich Creuzer, Johann Heinrich Voß und Arthur Schopenhauer eingegangen. Diese Konzeptionalisierungen wiederum stehen in engem Zusammenhang mit dem in einem Exkurs umkreisten, „pseudo-homerischen“ Hymnos An Demeter, der am Ausgang des 18. Jahrhunderts das Bild Proserpinas „erheblich verändert“.

Annette Simonis (Gießen) beleuchtet in „Venus Discordia“ und „Venus Verticordia“ – Zur ambivalenten Wiedergeburt der Göttin bei den Präraffaeliten „die enge Verflochtenheit bildkünstlerischer Darstellungen des 19. Jahrhunderts mit denjenigen der italienischen Renaissance ebenso wie die intermedialen Beziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst“. Das zentrale, auf breitem Kulturwissen und argumentativer Schlüssigkeit sattelnde Interesse gilt dabei der „Ambivalenz imaginierter Weiblichkeit“, der damit in Zusammenhang stehenden „Dialektik von Begehren und Idealisierung“, von Sehnsucht, Projektion und Distanzierung sowie der „Psychologisierung mythologischer Themen“. Herausgearbeitet werden vor allem Dante Gabriel Rossettis „Umdeutung der Venus Verticordia“ (Femme fatale), Edward Burne-Jones‘ vergeblicher Versuch, Venus Discordia und Venus Concordia zu vermitteln, sowie das „erstaunliche[] Comeback“ der ‚gefahrlosen‘ Venus Anadyomene (Walter Crane) in der viktorianischen Malerei am Ausgang des 19. Jahrhunderts.

Venus im Exil – Mythologie und »Rasse« in Theodor Storms „Von Jenseits des Meeres“ von Melanie Rohner (Genf) „basiert […] in Teilen auf einer bereits vorliegenden Studie der Verfasserin“ (Zeitschrift für interkulturelle Germanistik). In der ambivalent gezeichneten Figur Jenni – Rohner stellt auch bemerkenswerte Verbindungen zu Joseph von Eichendorffs Bianka (Das Marmorbild, 1819), Gustave de Beaumonts Marie (Marie, ou L’esclavage aux États-Unis, 1835), Eugène Sues Cecily (Les Mystères de Paris, 1842/42), Ignaz Franz Castellis Jenni (Die Verlassenschaft des Pflanzers, 1848) und Paul Heyses Beatrice (Beatrice, 1867) her – verschmelze Storms Novelle von 1865 jene auf „Dämonisierung“ und Bedrohung oder „Liebesglück“ und „Regeneration“ hinauslaufenden „Repräsentationstraditionen“ (Heinrich Heine, Prosper Mérimée, „>Hottentott Venus<“), die insbesondere der „Venus-Kult“ des 19. Jahrhunderts mit sich gebracht habe. Storm lasse zwar die Novelle nicht tragisch enden, doch sei ihm dabei „offenkundig“ recht unwohl gewesen.

Sebastian Kaufmanns (Freiburg) brillanter Beitrag » W i r  G ö t t e r  i n  d e r  V e r b a n n u n g! « Heine, Nietzsche und die »Irrthümer« des Menschen über sich selbst zeigt an Heines trefflich skizziertem Prosatext Die Götter im Exil, an (der titelgebenden) Nr. 425 der Morgenröthe und an der Fröhlichen Wissenschaft (diverse Abschnitte), wie sich das für Nietzsches „sehr freien“ Umgang mit Lektüren typische „>einverleibend-transfigurierende Hindurchgehen< konkret […] vollzieht“. „[P]seudomythographische Außenperspektive“ dort gegen „subjektivierte[], anthropologisierte[] Betrachtungsweise“ hier, „Vermenschlichung und Verbürgerlichung der antiken Götter“ einerseits und ‚falsche‘ „Selbstvergöttlichung des Menschen […] als tragische[r] Größenwahn“ andererseits, Akzentuierung des Sieges und der „andauernde[n] Herrschaft“ des Christentums vs. Thematisierung von dessen „Niedergang“: Angesichts von Nietzsches Utopie einer „>Vernatürlichung<“ und einer „>richtige[n]< Vergöttlichung“ bzw. „Prometheisierung“ des Menschen erweisen sich die Unterschiede zu Heine als gravierend.

Markus Winklers (Genf) blendender Beitrag »verbannt von aller Wahrheit«: Dionysos als Gott im Exil in Nietzsches „Dionysos-Dithyramben“ und „Jenseits von Gut und Böse“ vertritt die These, dass es in den genannten, „als mythisierend-legitimierende[]“ „Genealogie“ sprechenden Texten Dionysos zufällt, „die philosophische Kritik des »Wille[n] zur Wahrheit« […] aufzuführen und in innere Szenarien des sowohl befreienden als auch erschreckenden Falls ins Boden- und Grundlose zu überführen.“ Dabei verwandele er als der ins „Innere des Menschen“, in seine „Gedanken und Triebe“ exilierte „Versucher-“ bzw. „Philosophen-Gott“ „mit unwiderstehlichem Zwang“ seinen „Exilort […] Herz […] in ein Labyrinth“ bzw. einen „»Abgrund«“. Die Dithyramben selbst seien von unterschiedlicher Qualität. Während Klage der Ariadne durch „harmonisierende[] Veräußerlichung“ Dionysos’ und „distanzlosen Genuss“ in „mythologischen Kitsch“ umschlage, entkomme Nur Narr! Nur Dichter! der „Kitschfalle“, indem „Erlösung“ ausbleibe, freilich um den Preis von „Selbstzerstörung“ und „performative[m] Widerspruch“, von „Verbannung aus aller Wahrheit“ als einziger Wahrheit nämlich.

In Salomon Reinach, die irrenden Götter und die Mythenexegese der Aufklärung referiert Ralph Häfner (Freiburg) zunächst anhand des Aufsatzes La mort d’Orphée (1902) Reinachs Auffassung der „durch mannigfache Lokaltraditionen »irrenden Gottheiten«“. Anhand der Introducion zum ersten Band von Reinachs „Hauptwerk“ Cultes, mythes et religions (1905) und vor allem des Aufsatzes Esquisse d’une histoire de l’exégèse mythologique (in Cultes, mythes et religions IV, 1912, 1-28) wird sodann einlässlich auf die von Reinach genannten Voraussetzungen seines „Forschungsansatz[es]“ verwiesen – im 19. und frühen 20. Jahrhundert „angelsächsische Anthropologie“ (diverse Autoren) und „Soziologie“ (u.a. Émile Durckheim), im frühe(re)n 18. Jahrhundert aber bereits die „anthropologische[] Mythenexegese“ bei Bernard de Fontenelle und insbesondere bei Charles de Brosses. An Reinachs Abhandlung L’orphisme dans la IVéglogue de Virgile (1900) wird schließlich „die produktive Überformung der Philologie durch Ergebnisse der Anthropologie“ demonstriert.

Denis Thouard (Paris/Berlin) untersucht in seinem luziden, gehaltvollen Beitrag Politiques d’Orphée: de Ballanche à Blanchot, wie sich zwei sehr unterschiedliche Denker, Pierre-Simon Ballanche in der ersten Hälfte des 19. und Maurice Blanchot in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in ihren theoretischen Überlegungen auf den Orpheus-Mythos beziehen und diesen für ihre Zwecke aktualisieren. Ballanche als „Janus d’une contre-révolution progressiste“ (Paul Bénichou) exkulpiere Orpheus von seinem vermeintlichen Fehltritt und lasse ihn als Seher eines zukünftigen harmonischen Weltzustands auftreten. Blanchot, vor dem Krieg in Verruf geraten durch seine Verbindung zur extremen Rechten, entwickele aus dem widersprüchlichen Orpheus-Mythos und als Antithese zu Heideggers Auffassung vom „Ursprung des Kunstwerks“ eine höchst abstrakte Theorie vom Wesen der Literatur, in der die schreckliche Vergangenheit als Leerstelle weiter anwesend sei.

Henning Hufnagels (Freiburg) Glanzstück Das letzte Exil. Mythologie im szientistischen Zeitalter: die Dichtung der Parnassiens rückt in den Blick, wie Autoren des Parnasse mit der zeitgenössischen „Abwertung der Mythologie“ verfahren. Dabei widmet er François Coppées „para-parnassische[r] Ästhetik des Banalen“ ein eigenes fulminantes Kapitel. Zum einen thematisierten die Parnassiens wie in Théodore de Banvilles Gedicht L’Exile des Dieux (1866) den gegenwärtigen „Verlust der Dichtung“, die selbst „mit einem vorchristlich-mythologischen Weltzugriff enggeführt“ werde. Zum anderen „vertexte[te]n“ sie wie der „(geistes)wissenschaftlich[e] Fundierung „inszenieren[de]“, mit „verfremdende[m] Perspektivwechsel“ operierende Leconte de Lisle in seinem Langgedicht Niobé (1852) „mythologische Sujets“ so, „als komme dem Mythos noch kultische Valenz zu.“ Zum dritten diene ihnen wie in Sully Prudhommes La Vénus de Milo (1908), José-Maria de Herredias La Centauresse (1888) und in Leconte de Lisles Paysage polaire (1875) „Mythologie als ein Sinn- und Formenrepertoire, um aktuelle wissenschaftliche und gesellschaftliche Probleme […] zu reflektieren.“

Wie antikes Griechenland und fernöstliches Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu (ästhetischen) Idealen werden, nach deren Verbindung zu fragen sei (James McNeill Whistler), zeichnet Stefano Evangelista (Oxford) in Gods of Greece and Ghosts of Japan in the Writings of Lafcadio Hearn präzise nach. Als naturalisierter Japaner Koizumi Yakumo habe sich Hearn vor allem in einer Reihe von zwischen 1894 und 1904 erscheinenden, hier diskutierten Schriften mit „polyphonic effect“ für die seines Erachtens zahlreichen Parallelen zwischen den Göttern (bzw. Geistern) der griechischen und japanischen Mythologie (Shinto) interessiert. Zum einen sei es dabei in kulturkritischer, antiimperialistischer Perspektive darum gegangen, die „ghosts of Old Japan“ dauerhaft im kulturellen Gedächtnis des modernen, zusehends westlich überformten Japan zu verankern. Zum anderen habe die Anbetung von Shinto-Göttern die „mise en scène“ (Enoshima) für Hearns „fantasy of time travel“ in eine „‘happier world’“ abgegeben, die der Essenz nach „Schiller’s Romantic Hellenism“ entspreche.

Der thesenreicher Beitrag Die Landschaft des Göttlichen in Konstantinos P. Kavafis’ Dichtung von Maria Boletsi (Leiden) gilt den ‚menschenähnlichen‘ (vgl. Sarpedons Totengeleit, 1908) „Figuren des Göttlichen“ in Gedichten dieser „weltliterarisch bedeutsame[n] Figur der europäischen Moderne, ja der Weltliteratur“. In Ionisches (1911) triumphiere die „Freude“ der gespensterhaften Götter „angesichts der Rückkehr“ über den „Schmerz des Exils“ Heines. Von ihren Göttern einer (1917) und Grab der Iasis (1917) thematisierten im Zeichen von (homoerotischem) Verlangen „Götter als junge Sterbliche und junge Sterbliche als Götter“. Sollte er wirklich gestorben sein (1920) sei eines jener zahlreichen Gedichte, das von Kavafis’ „widerstrebende[r] Ironie“ (vgl. Perfidie, 1904) durchdrungenen sei und das Göttliche im „Konflikt verschiedener religiöser Systeme“ zeige. Gebet (1898), Die Intervention der Götter (1899) und Kleitos ist krank (1926) zeugten von der Götter Grenzen, dem Scheitern der Kommunikation zwischen Gott und Mensch und einer „zyklischen Geschichtsauffassung“.

Herwig Gottwald (Salzburg) unternimmt in seinem an weiteren Quellen (über-)reichen Beitrag Die »Götter im Exil« bei Hans Henny Jahnn den Versuch, die „,radikale[] Fremdheit‘“ von dessen Hauptwerk Fluß ohne Ufer (1949–1961) „durch die ansatzweise Analyse der mythographischen Ebene des Romans etwas zu entschärfen.“ Wie Heine oder Thomas Mann sei der „kulturkritisch[e] und zivilisationsskeptisch[e]“ Jahnn mit seiner „Vorliebe für archaische Lebensformen“ insbesondere von der „niederen Mythologie“ (M. Winkler) fasziniert gewesen, habe diese allerdings im Unterschied zu den Genannten „durchwegs affirmativ“ übernommen, bspw. mit Blick auf „Tier-Mensch-Mischwesen“, „Wiedergänger“ und „Blut-Mythologie“. In Niederschrift gestalte Jahnn die „Hauptschauplätze […] und das […] Geschehen […] mittels spezifischer Chronotopoi im Sinne Bachtins.“ Insgesamt könne die Trilogie „auch als moderne Ausprägung eines mythischen Analogons im Sinne Clemens Lugowskis verstanden werden.“

Aufs Ganze gesehen bietet Götter-Exile eine ungemein bereichernde Lektüre, weil für den/die LeserIn ex- oder implizit Disziplinen wie Anglistik, Germanistik, Gräzistik, Komparatistik, Kunstgeschichte, Medientheorie, Musikgeschichte, Neogräzistik, Philosophie, Romanistik, Tanzwissenschaft und Theologie miteinander ‚ins Gespräch‘ gebracht werden. Diesem seitens der Disziplinen freilich in unterschiedlicher Intensität und Extensität geführten, polyphonen ‚Gespräch‘ zu folgen, stellt allerdings eine beträchtliche Herausforderung dar, zumal es in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) abgehalten wird.

Titelbild

Ralph Häfner / Markus Winkler (Hg.): Götter-Exile. Neuzeitliche Figurationen antiker Mythen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
251 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347765

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