Schlimm-Massel, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung

Das Phänomen des Witzes in der neueren jüdischen Literatur von Jakob Hessing

Von Nathanael RiemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathanael Riemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele jüdische Texte werden bekanntlich von rechts nach links gelesen, und dieser Umstand soll als Vorwand dienen, die Besprechung des vorliegenden Buches mit seinem Epilog beginnen zu lassen. Hier macht Jakob Hessing, emeritierter Professor für Deutsche Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem, auf einen bislang wenig beachteten Aspekt im Werk Sigmund Freuds aufmerksam: Während Freud die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie verfasste, arbeitete er ebenfalls an seiner 1905 erschienenen Studie mit dem Titel Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, das heute als eines der richtungsweisenden Werke zu dieser Thematik gilt. Für Hessing, der sich bereits zuvor intensiv mit Freud auseinandersetzte, war dies ein Anlass, den tieferen Bedeutungen des Witzes in der jüdischen Literatur nachzugehen.

Unter dem ‚Witz’ versteht Hessing weniger tendenziöse, diffamierende oder obszöne Seitenhiebe, sondern eine vielschichtige Kritik, die die offensichtliche Diskrepanz zwischen Ideal und Realität der eigenen Gesellschaft in den Fokus nimmt. Infolgedessen verlässt die kleine Literaturgeschichte des Witzes die heutige Semantik und versteht das Wort eher als eine lose Sammelbezeichnung für geistreiche Satiren, Grotesken, ironische Erzählungen und andere Formen der literarischen Analyse.

Der Prolog und das erste Kapitel möchten in einige wesentliche Aspekte der europäisch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einführen und machen das interessierte Lesepublikum mit verschiedenen Termini wie zum Beispiel Mámeloschen, Aschkenasim und Maskilím vertraut. Der nachfolgende Exkurs mit dem Titel „Familienglück“ stellt den Problemkreis vor, um den sich der jüdische Witz überwiegend dreht: Die Familie als „Keimzelle“ und geregeltes Grundgerüst des jüdischen Kollektivs.

Abraham ist neunundneunzig Jahre alt, als Gott ihm einen Sohn verheißt, und der alte Mann reagiert merkwürdig: ‘Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte und sprach in seinem Herzen: Soll mir mit hundert Jahren ein Kind geboren werden, und soll Sara, neunzig Jahre alt, gebären?’ (1. Mose 17,17).

Der Witz im Allgemeinen – so erfährt das Lesepublikum – verletzt die Regeln, die als Schildmauern errichtet werden, um die Absurditäten des menschlichen Lebens zu verdecken. Wenn schon der Akt der Fortpflanzung als Strafe für den Sündenfall gedeutet werden kann (1.Mose 3,16), stellt sich die Frage, warum die Redakteure der biblischen Texte in gleich drei der zehn Gebote die Vater-Mutter-Kinder-Beziehung als „eiserne Regel des kollektiven Überlebens“ zu etablieren versuchen. Das streng-endogamische Konzept bildete bis zum Zusammenbruch der „alten Welt“ einen (von mehreren) Garanten für die nachhaltige Existenz der Judenheiten. Erst mit der untergehenden europäischen Ordnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts soll jene Ambivalenz entstanden sein, die Hessing als den „Nährboden des jiddischen Witzes“ bezeichnet. Spätestens hier wird deutlich, dass der Titel des Buches eine Art Diminutiv darstellt, während der Text selbst Phänomene erörtert, die auch in einer breiter angelegten jüdischen Kultur- oder Literaturgeschichte ihren Platz hätten finden können.

Mit Mendele Moicher Sforim (d. i. Scholem Jankev Abramovitsch, 1835–1917), Scholem Alejchem (d. i. Scholem Jankew Rabinowitsch, 1859–1916) und Jizchok Leib Perez (1852–1915) befragt Hessing drei der bedeutendsten Schriftsteller der modernen jiddischen Literatur. Die geschilderten Ereignisse eignen sich keineswegs für eine Romantisierung der jüdischen Welten Osteuropas. Überkommene politische und gesellschaftliche Strukturen, bitterste Armut, selbst Mädchenhandel und Prostitution beschleunigten die Entstehung politischer Bewegungen, die die traditionellen Antworten („wegen unserer vielen Sünden“) für die Misere der Massen radikal in Frage stellten. Zwar vermochte der polnische Chassidismus neue religiöse Interpretationsansätze zu formulieren, doch gelang es ihm nicht, die scharfe Diskrepanz zwischen Ideal und Realität zu lösen, da sich Einfluss und Wohlstand – wie in der nichtjüdischen Welt auch – in den Hofhaltungen der Elite akkumulierten.

In dieser Gemengelage begannen die oben genannten Schriftsteller, ihre Werke zunehmend in Jiddisch zu verfassen und entschieden sich infolgedessen dafür, zuvörderst weniger die hebraisierten Führer, sondern die breiten Massen als Zielgruppe anzusprechen. So unterschiedlich ihre Lebenswege und facettenreich ihr Oeuvre sein mag, so eint sie doch die Gabe, die Ausweglosigkeiten des Lebens in den Schtétlach mit klugem Witz und vielschichtiger Ironie so zu überbrücken, dass sie bereits zu Lebzeiten als die Gründungsväter der modernen jiddischen Kultur gefeiert wurden.

Die von Hessing ausgewählten Werke dieser drei Heroen erstreckt sich von der Satire Die Reisen Benjamins des Dritten (Mendele Moicher Sforim, 1878) über die bekannten Fortsetzungsromane Menachem Mendel und Tewje, der Milchmann (Scholem Alejchem, 1892–1913 bzw. 1894–1916) bis hin zu den Meistererzählungen Jizchok Leib Perez Bontsche Schweig (1894) und Wenn nicht noch höher (um 1900). Das Unglück der Protagonisten resultiert freilich nicht immer aus den Verstrickungen von Ehe und Familie, stellt sie jedoch häufig in den Mittelpunkt – selbst dann, wenn es sich wie in Scholem Alejchems Drei Witwen (1907) um mürrische Junggesellen handelt, deren Ehen stets an der Einfahrt zum Hafen (oder kurz danach) enden. Welche ungeheure Wirkung die drei Klassiker mit ihrem ‚Witz’ auf ihre Zeitgenossen ausübten, die während des Ersten Weltkrieges kurz hintereinander verstarben, wird in einem Nachruf auf Scholem Alejchem deutlich, den der Literaturkritiker Fischel Lachower in der deutschsprachigen Zeitschrift Der Jude publizierte:

Scholem-Alejchem ist tot. Das einzige freie, volle, unbefangene Lachen, das einzige Lachen um des Lachens willen im Ghetto (das Mendeles ist schwer und bitter) ist verhallt. Scholem-Alejchem war vielleicht der einzige jüdische Dichter, dem der Geist der Schwere nichts anhaben konnte, denn er hatte die Gabe, alles Schwere leicht zu machen. Das schwerste Leben der Welt, das jüdische Wanderleben, wird in seiner Hand zu einer Reihe von Überraschungen und Abenteuern.

Das letzte Kapitel widmet Hessing der Karriere des jüdischen Witzes im 20. Jahrhunderts, der sich in zwei Richtungen entwickelt: Im Genre der sogenannten „Judenwitze“ wurde ein verballhorntes Deutsch eingesetzt, um das Jiddische zu imitieren und die Identität der Protagonisten aufzudecken und sprachlich auszugrenzen. Auf der anderen Seite bemühten sich beispielsweise Immanuel Olsvanger und nach der Shoah Salcia Landmann um die Erinnerung beziehungsweise das Weiterleben des jüdischen Witzes und brachten Sammlungen in Buchform heraus.

Landmann sah sich als die letzte Sammlerin dieses Kulturgutes und glaubte behaupten zu müssen, mit den Juden Europas sei auch der jüdische Witz untergegangen. Weder in Israel noch in Amerika habe er eine Zukunft […].

Zu ihrem großen Unglück hatte sie Ephraim Kishon, den neuen Shootingstar der israelischen Komedieszene übersehen, der heute mit einer Weltauflage von 43 Millionen Büchern (davon 33 Millionen in deutscher Sprache) als einer der erfolgreichsten israelischen Satiriker gilt. Und die Szene konterte mit einer „Anti-Landmann-Polemik“ (Spiegel, 5.6.1963): Friedrich Torberg, der gerade die Werke Kishons aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, wies Landmann als Retterin des jüdischen Witzes zurück – vielmehr „ermorde“ sie ihn, weil sie den jüdischen Witzen aufgrund diverser Fehler ihre Pointen nehme und antisemitische Tendenzen befördere. Über den großen Erfolg des Buches zutiefst beunruhigt, stieß er bald auf dessen Ursachen:

Die Leser, denen dieses Buch gefällt, haben das gleiche angenehm prickelnde Gefühl wie die Kritiker, die es loben: sie haben die Vergangenheit bewältigt und haben sich dabei auch noch gut unterhalten. Mehr kann man nicht verlangen.

Der vorliegenden Studie über das Phänomen des Witzes in der modernen jüdischen Literatur ist ein Anmerkungsapparat mit Quellenverweisen beigegeben, die eine Einbindung in die Forschung ermöglicht. Die zitierten Texte stammen überwiegend aus deutschen Übersetzungen der jiddischen Texte, an entscheidenden Stellen wurden jedoch auch die jeweiligen Werksausgaben herangezogen.

Titelbild

Jakob Hessing: Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
172 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783406754739

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