Oft ist das Kleine eigentlich groß

Maren Jäger, Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl präsentieren in einem Sammelband Praktiken der „Verkleinerung“

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der literarische Markt will die große Form. Wer hier reüssieren möchte, legt sein Romandebüt vor. Die Aussichten auf Erfolg steigen, wenn ein Debütant sein Werk in einem großen Verlag veröffentlichen kann. Thomas Mann wird der Satz zugeschrieben: „Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß.“ In Rezensionen klingt es abfällig, wenn ein Buch als „schmaler Band“ charakterisiert wird. Dabei gilt oft schon ein Druckwerk, das 150 Seiten umfasst, als „schmaler Band“. Dass aber Umfang, Größe, Schwere keine Qualitätsmerkmale sind, zeigt der Sammelband von Maren Jäger, Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl zur Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen (so der Untertitel).

Der Begriff der „kleinen Form“ ist in diesem sorgfältig ausgestatteten Buch sehr weit gefasst. Es geht keineswegs nur um literarische Kleinformen wie Aphorismus, Fabel, Parabel oder Kurzgeschichte. Dargestellt werden vielmehr Praktiken der Verkleinerung in diversen historischen Epochen und deren „epistemische“ Funktion(en), also deren Nutzen für die Gewinnung, Speicherung und Verbreitung von Wissen.

Die sechzehn Beiträge sind in vier Sektionen gruppiert, deren Überschriften auf „Basisoperationen“ der Verkleinerung verweisen: Reduktion, Selektion, Verdichtung und Transposition. Die oft von außen auferlegten „Zwänge zur Verknappung“, von denen in der Einleitung die Rede ist, dürften auch für die Konzeption des Bandes maßgeblich gewesen sein, da alle Beiträge ungefähr den gleichen Umfang haben. In der Praxis des wissenschaftlichen oder journalistischen Schreibens kann die Vorgabe einer bestimmten Zeichenzahl sowohl Fluch als auch Segen sein. Der zitierte Alfred Polgar klagt über sein „mit mancher Qual verknüpftes schriftstellerisches Bemühen aus hundert Zeilen zehn zu machen“. Andererseits verdeutlicht der Aphoristiker Lichtenberg mit einem Bild aus der Naturwissenschaft, dass „Selbstdisziplinierung als Grundbedingung sprachlicher Effizienz“ gelten sollte.

Dass Effizienz der Ertrag von Verkleinerung sein kann, wird in mehreren Beiträgen sichtbar gemacht, so etwa wenn Jasper Schagerl zeigt, wie der Barockdichter Harsdörffer eine umfangreiche Sammlung von Kriminalfällen des französischen Bischofs Camus verdichtet, vereindeutigt und dadurch in der Wirkung verstärkt, um seinen angestrebten Zweck, die Menschen „vom Laster zu reinigen“, zu erreichen. Maren Jäger analysiert, wie der Humanist Justus Lipsius durch Selektion und Reduktion von Zitaten aus antiken Texten etwas Neues macht, ein Brevier, das gutes Regierungshandeln für den Fürsten und seine Entourage an Beispielen verdeutlicht.

Hatte Lipsius die Schwierigkeit, Textstellen ‚heidnischer‘ Schriftsteller verwenden zu müssen, gelöst, indem er diese im christlichen Sinn umformte, so kam die alte ‚Topik‘, das Sammeln einschlägiger Sentenzen älterer Autoritäten, im Zeitalter der Aufklärung aus anderen Gründen an ihre Grenzen: John Locke ergänzte und erneuerte die ‚Commonplaces‘ durch eigene Beobachtungen, subjektive Wahrnehmungen und Anekdoten und schuf so in seinen Notizbüchern eine ‚kleine Form‘, die zur Gattungsdefinition geradezu herausforderte. In diesem Zusammenhang macht Florian Fuchs darauf aufmerksam, dass „die kleinen Formen viel schneller theoretische Gattungsdefinitionen ausbilden konnten, als es die modernen Großformen wie Roman oder Chronik vermochten“.

In bürokratischen Handlungskontexten ermöglichten Reduktionen eine gezielte Entscheidungsfindung: Stephan Strunz erläutert an einem exemplarischen Fall aus dem späten 18. Jahrhundert, wie Berichte im Verlauf eines Bewerbungsverfahrens über mehrere Instanzen verdichtet und versachlicht wurden. Vorbereitet wurde so die Textform des auf Qualifikationen fokussierten Lebenslaufs. Auf eine weitere praktische Kurzform, die im 17. Jahrhundert entstand, macht Günter Oesterle aufmerksam. Schon Montaigne hatte gefordert, es müsse eine Angebot und Nachfrage vermittelnde Einrichtung geben. Zu diesem Zweck wurde im 17. Jahrhundert die Annonce erfunden, die dem Lesepublikum hauptsächlich in den ‚Intelligenzblättern‘ zugänglich war. Um 1800 wurde die Annonce „poesiefähig“, indem sie von Kleist in seiner Novelle Die Marquise von O. an zentraler Stelle und in der romantischen Poesie, etwa von Friedrich Schlegel in seinen Teufeleyen, verwendet wurde.

Aus mehreren Aufsätzen lernen wir, dass und wie durch Verkleinerung Kunst entstehen kann. Juliane Vogel zeigt dies am Scherenschnitt, einer Kunstform, die zu Unrecht – und nicht zuletzt deshalb, weil sie als weibliche Beschäftigung galt – gegenüber der Malerei und der Bildhauerei abgewertet wurde. Helmut Pfeiffer geht auf das ebenfalls unterschätzte ‚Memorabile‘ ein, das als Textform für die Speicherung des Singulären und Denkwürdigen, aber auch des Irritierenden bestens geeignet sei. Philip Kraut überrascht mit Beispielen dafür, dass die Nacherzählungen und Inhaltsangaben von Sagen und Fabeln in den Sammlungen der Brüder Grimm nicht nur philologische Zwecke erfüllten, sondern auch künstlerische Qualitäten annehmen konnten. Im Beitrag von Sabine Mainberger erfährt man, welch vielfältige, nicht zuletzt körperliche Funktionen Aufzählungen in Form von ‚Listen‘ im Schreiben von Antonin Artaud hatten.

Der Wissensproduktion durch kleine Formen widmet sich Volker Hess am Beispiel von Kurztexten zur Meteorologischen Medizin im frühen 18. Jahrhundert: Beobachtungen zu Krankheiten und Wetter wurden tabellarisch festgehalten und dann zu handlungsanleitenden Aphorismen zusammengefasst und verallgemeinert. Liam C. Cole macht auf die zu wenig beachtete Infrastruktur des Wissenschaftsbetriebs aufmerksam, zu der Archivlisten, Zitatsammlungen und Exzerpte (Florilegien) sowie Feld- und Lesenotizen gehören. Christoph Hoffmann untersucht eingehend die wissenschaftliche Zitier- und Klassifikationspraxis am Beispiel des Literaturverweises „Oreskes 2004“, mit dem die Unstrittigkeit des menschengemachten Klimawandels häufig belegt wird.

Im vorletzten von Hendrik Blumentrath verfassten Beitrag ist schließlich doch noch von einer der klassischen literarischen Kleinformen die Rede, der Fabel nämlich. Betrachtet wird die bislang wenig beachtete Fabeltheorie von Johann Gottfried Herder. Für Herder entstand die Fabel aus einem „Verfahren analogischer Erfindung“. Die kleine Form schien ihm dazu geeignet, in Anlehnung an Verfahren aus der Geometrie Modelle „einer umfassenden kosmologischen Ordnung“ zu konstruieren.

Bei allem anerkennenswerten Bemühen der HerausgeberInnen um Systematisierung hat der Band auch die Qualität einer Blütenlese mit manch überraschender Trouvaille. Dazu gehört der Beitrag von Marie Czarnikow über Vordrucke für Kriegstagebücher im Ersten Weltkrieg. Sie zu führen galt als patriotische Pflicht, insbesondere für Lehrpersonen. Ein Schuldirektor aus Rastenburg in Ostpreußen genügte dieser Pflicht, indem er zunehmend dazu überging, Zeitungsausschnitte in das Buch einzukleben, das dadurch ziemlich dick wurde. Wenn es um das Verkleinern und Verdichten von Historischem geht, ist auch an Theodor Fontane mit seiner Vorliebe für Anekdoten zu erinnern. Nils C. Ritter tut dies, indem er die Funktion der Tischgespräche analysiert, die beispielsweise im Roman Frau Jenny Treibel über die Bedeutung der damals höchst populären archäologischen Ausgrabungen geführt wurden.

Das Buch ist ausgewiesen als Band 1 der neu eröffneten Reihe Minima. Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, die an ein gleichnamiges DFG-Graduiertenkolleg an der Humboldt-Universität in Berlin gekoppelt ist. Mehrere Beitragende haben an diesem Kolleg teilgenommen. Angesichts der Vielfalt der in diesem ersten Band verhandelten Themen aus interdisziplinären Forschungsfeldern darf man weitere Bände dieser Reihe mit Vorfreude erwarten.

Titelbild

Maren Jäger / Ethel Matala de Mazza / Joseph Vogl (Hg.): Verkleinerung. Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen.
De Gruyter, Berlin 2020.
VI, 291 Seiten , 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110667615

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