Dystopie und Alltag

Laura Lichtblaus Debütroman „Schwarzpulver“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laura Lichtblau wurde 1985 in München geboren und lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie hat in Hildesheim und Leipzig Literarisches Schreiben studiert, ein Kinderbuch, Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht und ein paar Artikel für das – mittlerweile eingestellte – Popkultur-Magazin SPEX verfasst. Schon diese Texte verweisen auf ein Interesse an ungewöhnlichen Themen, und das kennzeichnet auch ihren Erstlingsroman. Der spielt in der Gegenwart, in der „Zeit zwischen den Jahren“ – im Alpenraum „Rauhnächte“ genannt – d.h. zwischen Weihnachten und dem 6. Januar, wenn die Geister unterwegs sind. Handlungsort ist, abgesehen von einer Wien-Episode, Berlin – die Schauplätze, meist in Kreuzberg, sind trotz verfremdeter Straßennamen wiedererkennbar. Protagonist/inn/en sind Charlotte Venus (Kräutertee-Trinkerin und Scharfschützin in einer staatlich lizenzierten Bürgerwehr), ihr Sohn Charlie (Kiffer und Praktikant bei einem Hip Hop-Label) und Burschi, die eigentlich Elisa heißt, ein dementes älteres Ehepaar pflegt (und beklaut), vielleicht mit Charlie befreundet ist, vor allem aber verliebt in Johanna, eine diffus bleibende Zufallsbekanntschaft. In der Stadt wie auch im ganzen Land regiert die „Partei“ (eine Mischung aus AfD und FPÖ). Rassismus und Kultivierung traditioneller Geschlechterrollen sind Staatsdoktrin; Frauen werden in der Bürgerwehr geduldet, obwohl man sie „mindestens eine Woche pro Monat nicht guten Gewissens an die Waffen lassen dürfte“. Charlotte wird in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem sie im U-Bahnhof versehentlich Burschi angeschossen hat. Die muss wegen lesbischer Neigungen auf Betreiben ihrer Mitbewohnerinnen die Frauen-WG verlassen und zieht bei den alten Leuten ein, die sie als „Gesellschafterin“ betreut; Charlie wird bei einer Anarcho-Demonstration verhaftet und auf einem verlassenen Truppenübungsplatz ausgesetzt. Dann gibt es noch eine Reise von Charlotte nach Wien, wo sie ein Referat zur Organisation der deutschen Bürgerwehr hält und den Erzeuger ihres Sohnes trifft; Charlie besucht seine in einem brandenburgischen Dorf lebende Tante, die den Tod ihres Dackels durch „zwei östliche Kaiseradler“ betrauert. Burschi erinnert sich an Faschingsfeiern in ihrem bayrischen Heimatdorf, und während einer Kundgebung der Partei erschreckt eine Himmelserscheinung – vielleicht ein Meteor, vielleicht auch nur eine verspätete Silvesterrakete – die Zuhörer. In der Zusammenfassung klingt das so wirr, wie das Buch ist – seiner akkuraten Struktur zum Trotz: 45 kurze Abschnitte werden gleichmäßig auf die drei Hauptfiguren verteilt, die wechselseitig aus ihrer Perspektive erzählen.

Formale Eigenarten oder eine Handlungsskizze verraten allerdings so wenig über die Qualitäten von Schwarzpulver wie die Beschreibung der eher blutleeren Charaktere. Wenn dieser Roman dennoch auf eigenartige Weise fesselt, liegt das an den lebendigen Orts-, Milieu- und Situationsschilderungen, vor allem aber an einer fast unmerklichen Vermischung von realem Großstadt-Alltag und einer dystopischen Welt, die nicht (mehr) undenkbar ist. Warum sollten gesundheitsbewusste Frauen nicht als Sniperinnen agieren, wenn – wie in der Süddeutschen Zeitung unlängst zu lesen – am bayrischen Schliersee eine „Sicherheitswacht“ aus engagierten Rentnern (in Uniform und mit Reizgas) patrouilliert? Bis zur Einrichtung eines „Amtes für Staatsmoral“, der Erfassung sexueller Vorlieben per Fragebogen oder der gesetzlichen Festschreibung eines Idealgewichts für Frauen ist es dann nicht mehr allzu weit. Die Schilderung einer Demonstrationsauflösung durch Polizei und Bürgerwehr liest sich ohnehin schon wie eine Reportage aus Minsk.

Lichtblaus Roman beeindruckt durch die Verschränkung eines genau beobachteten Großstadtalltags mit nur geringfügig zugespitzten Absurditäten. Die Lektüre ist anstrengend, weil das Buch fragmentarisch bleibt, wohl auch unfertig ist – ein Eindruck, der dem Alter des Rezensenten und seinen Lesegewohnheiten geschuldet sein mag. Auch sprachliche Ungenauigkeiten und grammatikalische Schnitzer stören. Es gibt allerdings genug gelungene Passagen, beispielsweise die einfühlsam und sensibel geschilderte Liebesszene zwischen Burschi und Johanna im Hotel; Burschis Erinnerungen an den Fasching im Dorf ihrer Kindheit; Charlies Schilderung der brandenburgischen Natur oder seine Eindrücke vom Garten der Tante, die „nichts gepflanzt [hat], weil sie nicht glaubt, dass sie noch lang genug leben wird, um von den Mühen profitieren zu können“ – ein schönes Bild für’s Altern.

Solche Sätze (auf die "man die ‚Gedanken ablegen kann") machen das Buch trotz einiger Widersprüche lesenswert. Manches ist zu durchschaubar und konstruiert, doch dann gelingt es der Autorin immer wieder, mit wenigen Worten atmosphärische Dichte zu erzeugen. Ein Buch wie ein Bausatz – mit Elementen aus dem Alltag und Versatzstücken aus einer Zukunft, die verstört, an die man sich aber durch die täglichen Nachrichten fast schon gewöhnt hat. Lichtblau changiert gekonnt zwischen Normalität und Absurdität. Ihr Pech, dass das Buch zu einer Zeit erscheint, da die Zeitungslektüre vergleichbare Wirkung hat. Der Großstadtroman des 21. Jahrhunderts ist Schwarzpulver sicher nicht, aber man darf gespannt sein auf künftige Bücher dieser Autorin. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Laura Lichtblau: Schwarzpulver.
Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
202 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406755569

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