Ein Land als Wurzel aus –1

Alexander Kuge erfüllt gewohnt materialreich mit „Russland Kontainer“ einen Wunsch seiner Schwester Alexandra

Von Nikolai PreuschoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Preuschoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Noch eine Bitte“, schreibt Alexander Kluge 1977 im Vorwort zu den Neuen Geschichten. Hefte 1–18, ‚Unheimlichkeit der Zeit‘: „Wenn ich etwas verstanden habe, setze ich mich in Bewegung, reise, handle, oder ich schreibe ein theoretisches Buch. Dies hier ist keines. Deshalb meine ich nicht weniger, was ich schreibe.“ Die Form, in der er seine Geschichten erzählt, sei, so Kluge, „ein Gefühl, das nur einmal mißt“ (1977, 9). Seit 1962 veröffentlicht Kluge Erzählungen. Und bis heute hat sich an seiner Erzählweise kaum etwas geändert; nach wie vor ist Kluges Ästhetik einem „Antirealismus des Gefühls“ verpflichtet, der sich gängigen Kategorien widersetzt. So gelten die zitierten Worte auch für Kluges neuste Texte, die teils erfunden, teils gefunden sind.

Die Erzählungen der nun erschienenen Sammlung, die lapidar mit Russland-Kontainer übertitelt ist, stehen im Gegensatz zu den Neuen Geschichten unter einem „Oberbegriff“ , der nicht gerade klein ist: Russland. Vielleicht deshalb beginnt Kluge sein Buch, an dem er wieder zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Thomas Combrink gearbeitet hat, im Gestus der Bescheidenheit: dem Sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (2020, 9). Hieran schließt Kluge an, dass er „in diesem Kontainer in Wahrheit auch nur von mir“, also von sich selber schreibe; alles andere „wäre hochmütig“. Auch die Erzählungen des Russland-Kontainers (den Kluge russisch und zugleich deutsch mit einem K schreibt) gehen auf ein Gefühl zurück, nämlich den Wunsch seiner 2017 verstorbenen Schwester Alexandra Kluge, die ihn mit diesem Buch „beauftragt“ habe („Ich, der Beauftragte meiner Schwester“). Überhaupt finden sich in dem Band etliche autobiografische Einträge (etwa 24. Dezember 2018: „Ich rufe Jürgen Habermas an.“ Oder Donnerstag, 14. Februar 2019: „Mein Geburtstag […] die Knochen halten uns auf dem Rücksitz nicht mehr gerade.“), die bestenfalls sehr entfernt von Russland handeln und, wie im Fall der Tagebuchaufzeichnungen, eingerahmt und so von den anderen Inhalten des Kontainers abgehoben sind. Zu diesen persönlichen Texten und Fotografien steht der Titel durchaus im Widerspruch, wobei solche Widersprüchlichkeit bereits frühere Titel Kluges auszeichnete (vgl. etwa die Chronik der Gefühle).

Wie von Kluge gewohnt, ist der Russland-Kontainer eine Sammlung von kurzen Erzählungen, Anekdoten, Dialogen, historischen Fundstücken, Bild- und und auch Filmmaterial, das so selektiv wie weit verzweigt ist (unter „Hinweise und Nachweise“ finden sich in diesem Band eine Reihe von QR-Codes, die sich scannen lassen und dann zu altem und neuem Filmmaterial auf dctp-TV führen). So eine Sammlung gliche einem Roman insofern, erklärt Kluge, als Romane „ihrem Prinzip nach Sammlungen“ seien, die „nach Fortsetzung“ verlangen. Aus dieser Position der Subjektivität, eines ‚strengen Fantasierens‘ versucht Kluge (als Dilettant) eine Annäherung an Russland. Eine Annäherung, die nicht nur eine Annäherung an ‚Russland‘ ist, sondern zugleich eine an die Schwester Alexandra Kluge und deren – nun mit der DDR verschwundenes – Russland-Bild. In diesem Sinne ginge es Kluge in seinem neuen Buch also um ein heute vergessenes, verdrängtes, kollektives Russland-Bild, wie es im östlichen Teil Deutschlands vor dem Mauerfall lebendig war.

Alexandra Kluge wurde wie ihr Bruder in Halberstadt geboren, beide gingen dort zur Schule. Während ihr fünf Jahre älterer Bruder aber nach der Trennung der Eltern mit der Mutter nach Westberlin zog, blieb Alexandra beim Vater in Sachsen-Anhalt und lernte Russisch als erste Fremdsprache. Ihr Russland-Bild habe sie mit Puschkin-Lektüren, Briefmarken (vgl. „Ich sammle Briefmarken“), Märchen sowie einer bunten Mischung anderer Motive entwickelt, erklärt Kluge in einem Interview. Bereits 1966 spielte Alexandra Kluge in Abschied von gestern, diesem paradigmatischen Werk des Neuen deutschen Films, die Rolle der Anita G., einer jungen DDR-Bürgerin mit jüdischen Vorfahren, die in den Westen flieht und dort in Konflikt mit der Justiz gerät.

In Kluges persönlicher wie poetischer Annäherung an Russland fungiert der ‚Kontainer‘ als eine Art Wunderkammer, in der Ikonen, Zitat-Montagen, farbige Karten, Briefmarken, historische Fotografien und Filmmaterial faszinierend leuchten. Dazwischen gibt es historische Berichte, imaginierte Dialoge, Erzählungen unerhörter Begebenheiten. Zu Wort kommen der Komponist Modest Mussorgski, der futuristische Dichter Welimir Chlebnikov, die Malerin Natalija Gontscharowa, die „Sternenforscherin“ Karina Sedowa, aber auch Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Franz Kafka. Dann wieder: der „Regenmacher von Moskau“ Gennadi Beriolow, der Dompteur Juri Eduardowitsch, der fiktive reichsdeutsche „Zeitzeuge“ Gerhard Kunze und eine Straßenbahn-Schaffnerin aus St. Petersburg. Zwischen den einzelnen Beiträgen bleibt die Konstruktion erkennbar und viel Raum für Imagination. Raum, der, das ist ein zentrales poetisches Prinzip bei Kluge, von dem*r Leser*in auszufüllen ist.

Der Russland-Kontainer ist in fünf Themenbereiche gegliedert. Es beginnt mit einer kosmologischen Perspektive: Russland vom Himmel aus betrachtet, von der Kosmonauten- Kapsel und der Kuppel von Zirkuszelten. Es folgt Russland als „Vaterland der Besonderheiten“, der großen Theorien, des revolutionären Aufbruchs. Dann Russland als riesige Projektionsfläche und Objekt des „Beutemachers“. Dann Russland als Land des Scheiterns, der „verlorengegangenen Perestroika“. Und schließlich, am abstraktesten, Russland als Geburtsland und zugleich Verkörperung der imaginären Zahlen – dessen also, was nicht existieren kann, wie Kluge am Beispiel des Dichters Welimir Chlebnikow sowie des Mathematiker-Theologen Pawel Florenskij, Verfasser eines Werkes über imaginäre Zahlen in der Geometrie, erläutert („imaginäre Zahlen sind Amphibien zwischen Sein und Nichtsein“).

Denn natürlich passt Russland als Riesenland, das mit seinen 17 Mio. Quadratkilometern elf Prozent der Weltlandfläche bedeckt, in keinen Kontainer (ein Medium, das Kluge ebenso im 2020 erschienenen Parsifal Kontainer, gemeinsam mit Georg Baselitz, ausprobiert). Es ist noch nicht einmal genau ausmesbar. Ein Umstand, den Kluge nicht mystifiziert, sondern mit der Formel „Russland als [Wurzel aus –1]“ gerecht zu werden versucht. Wenn die Mathematik „eine Aktivität des Geistes ohne Sprache“ ist, werden im Russland-Kontainer Begriffe, Zitate, Ereignisse und Emotionen Auslöser einer multimedialen, dokumentarisch-literarischen Montage, die stets den Charakter einer unvollständigen, amphibischen Materialsammlung behält. Beschreiben ließe sich der Kontainer auch als eine Art Dunkelkammer – Labor, Aufbewahrungs- und Reproduktionsort gleichermaßen. Das darin versammelte Material wartet nicht darauf, von vorn bis hinten durchgelesen zu werden, sondern es appelliert an den Eigensinn der Lesenden.

Kluge-typisch sind die Kapiteleinteilungen nur lose Orientierungen. Ähnlich bilden die Überschriften die folgenden Erzählungen mal mehr mal weniger präzise ab: Anekdoten und Berichte über in den Himmel zeigende Seelen, Napoleons Russland-Feldzug, Immanuel Kants Gespräche mit der Zarin Elisabeth, Ikonen und künstliches Licht, über Kindermädchen als heimliche Lenkerinnen der Geschichte. Es erscheinen spielende Kinder in Halberstadt (die sich den Sieg über Stalingrad und das Vorrücken auf Astrachan ausmalen), Heiner Müller, Alexander Puschkin, Andrej Platonow, Nestor Karger (ein Pionier der sibirischen Sprachforschung), Nikolai Kondratjew (ein früher Vertreter der Konjunkturzyklentheorie), die Hündin Laika, Lydia Schewschenko, die Elementarschullehrerin von Nikita Chrutschow, Juri Andropow, „Gorbatschows Lehrmeister“, und Angela Merkel, die Vladimir Putin einzuschätzen versucht.

Der Russland-Kontainer ist auch ein Treffenpunkt alter Bekannter (auch das gehört ja zum Erzählen dazu: das Weiter- und Wiedererzählen). Kluge ist im Gespräch mit seinen früheren Werken. Besonders aufällig ist das bei einer Reihe von Einträgen zu den Geheimdienst-Genossen Bucharin, Rykow, Jeschow, Rodos, „Verwalter der Kälte“, die Stalin hinrichten ließ – Texte und Abbildungen dieser historischen Momentaufnahmen finden sich genauso bereits in Kluges Fünftem Buch (2012). So verwundert es weniger, dass sich an aktuellerem Zeitgeschehen so gut wie nichts im Kontainer findet. (Nichts von der Krim oder den Bomben, die immer noch auf die Ostukraine fallen, nichts vom Abschuss des Malaysia Airlines Flug MH17 2014 und auch nichts über die Nowitschok-Anschläge auf die Skripals und Alexei Nawalny.) Kluges Neugier richtet sich kaum auf aktuelle Ereignisse, er schreibt keine politischen Reportagen, und mehr als die großen Geschehnisse interessieren ihn vorbehaltlos die Interferenzen, in denen sich das Kleine des Privaten und Alltäglichen und Weltgeschehen durchdringen.

Als „Beauftragter“ seiner Schwester geht es Kluge in diesem multimedialen Buch aber auch nicht darum, dem Russland-Bild des Westens eine östliche Perspektive entgegenzusetzen (was von seinem Münchner Schreibtisch oder dem Arbeitszimmer auf Schloss Elmau aus auch schwierig gewesen wäre). Es geht vielmehr, so Kluge mit Heiner Müller, um eine Annäherung an ein Gefühl, das „mich verwirrt an meinem eigenen Land und was ich an meinen unmittelbaren Erfahrungen nicht verstehe“. Das Ergebnis dieser Introspektion bleibt relativ offen; die Leser*in wird alleingelassen mit bzw. ernstgenommen von Kluges poetischer Fracht, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich Gedanken darüber zu machen, wie die einzelnen Stücke zusammensetzen seien, was für ein Bild daraus entstehen und wieviel dies dann mit dem Hier und Jetzt zu tun haben könnte. Wie in seinen Filmen will Kluge sein Lesepublikum von vereinfachender Dramaturgie befreien. Moralische Urteile sind ihm nicht fremd, aber es gehört zu Kluges Didaktik, sich vom Didaktisieren fernzuhalten.

Der Russland-Kontainer, der so viele Verbindungen herzustellen versucht, endet mit dem Bild eines 91jährigen, der abends durch das Berliner Scheunenviertel geht, einige Dinge wiedererkennt, andere nicht, und zu denen er dann, wie es im Text heißt, „keine Verbindung mehr“ aufnimmt. 1945 hatte er die Stadt das letzte Mal gesehen, als Soldat. Die Überschrift lautet schlicht: „Ende des Lebens“. Der Russland-Kontainer ist ein Alterswerk und ein Fortsetzungsroman. In seinem Zentrum (auf S. 153) aber steht der Satz, „einer teuren Toten etwas zuliebe tun ist das Gegenteil von abstrakt.“

Titelbild

Alexander Kluge: Russland-Kontainer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
444 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428924

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch