Im Reich der Streuner

Mit der Geschichte einer verpassten Liebe kritisiert Durian Sukegawa in „Die Katzen von Shinjuku“ Diskriminierungen im Japan der 1980er Jahre

Von Nicole KarczmarzykRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Karczmarzyk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den Romanen Kirschblüten und rote Bohnen und Die Insel der Freundschaft steigt der japanische Autor Durian Sukegawa nun in das Genre der Katzenromane ein. Dabei geht es im Roman Die Katzen von Shinjuku allerdings nicht ausschließlich um Katzen. Vor allem zeigt sich einmal mehr Sukegawas Herz für Taugenichtse, denn der Protagonist ist ein Streuner, der in seinem Job wie auch seinem Privatleben nicht so recht vorankommen will. Die Handlung spielt im Japan der 1980er Jahre, dem Beginn der sogenannten „Bubble Economy“. Während einige in dieser Zeit ihren Reichtum durch Immobiliengeschäfte mehren konnten, geht der Wirtschaftsboom an Yama, dem Erzähler der Geschichte, völlig vorbei: „Für jemanden wie mich, der ohnehin nicht genug Geld zur Verfügung hatte und es gewohnt war, sich nach der Decke zu strecken, war das kein passender Begriff, um eine Lebensphase zu charakterisieren.“

Yama ist ein ewiger Außenseiter, der sich als Schreiber für Fernsehproduktionen verdingt. Ursprünglich wollte er Drehbücher für Fernsehfilme schreiben, jedoch wird er zu seinem eigenen Erstaunen aufgrund seiner angeborenen Rot-Grün-Schwäche für die entsprechenden Bewerbungstests pauschal ausgemustert. Diese Diskriminierung durch das System stellt ihn an das Ende der Karriereleiter und sorgt dafür, dass er als sklavenähnlicher Angestellter eines despotischen Agenturchefs versucht, doch noch Fuß in der Branche zu fassen. Die Sinnlosigkeit dieser Position nimmt beinahe kafkaeske Züge an, wenn Yama innerhalb weniger Tage 500 Quizfragen für eine Spielshow schreiben soll, von der es am Ende nur einige wenige in die Sendung schaffen. Yama lebt in Angst vor seinem Chef, der durchaus auch handgreiflich gegenüber seinem Mitarbeiter wird. Als kleinstes Licht innerhalb der Fernsehbranche lässt er diese Behandlung über sich ergehen und zieht sich zum Schutz immer weiter in sein Innerstes zurück.

Auch privat ergibt sich kein freundlicheres Bild — Yama gehört nirgendwo dazu und fristet sein Dasein damit, abends alleine durch Kneipen zu ziehen. Doch dieser innere Rückzug wird eines Abends aufgebrochen, als Yama durch Shinjuku läuft. Shinjuku gilt als etwas anrüchiger Stadtteil von Tokio, in dem sich das Rotlichtviertel ebenso wie eine illustre Kneipenszene verbergen. Hier betritt Yama die Bar Karinka und wird gleich am ersten Abend von den Stammgästen in die sogenannte „Katzenwette“ eingeführt. Die Kneipenbesucher wetten anhand des am Kühlschrank hängenden Katzenplans, welche der Samtpfoten als nächstes am kleinen Fenster der Kneipe vorbeistreunen wird.

Die Katzen lassen sich als Allegorie zu den Besuchern des Kneipenviertels in Shinjuku verstehen. Sie alle kommen aus den unterschiedlichsten Winkeln des gesellschaftlichen Lebens zusammen und es ist — wie bei den Vierbeinern — an jedem Abend Glückssache, wer in der Bar auftaucht. Das illustre Shinjuku wird zu einem Ort der Begegnung und dem Aufeinandertreffen verschiedenster Lebensmodelle abseits des Mainstreams. Das Karinka fungiert dabei als Sammelbecken für vielfältigste Schicksale, die hier eine Schnittmenge finden. Nämlich die Übereinkunft darüber, dass das Leben eben kein Paradies ist.

Mehr als die Katzen hat es Yama aber die Urheberin des Katzenplans angetan, nämlich Yume, die Kellnerin des Karinkas. Schnell entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen Yama und Yume. Diese bleibt jedoch vage. Yume zeigt Yama, wo sie die Katzen vom Katzenplan in einem leerstehenden „Love-Hotel“ füttert, und die beiden beginnen dort eine schwärmerische, poetisch-romantische Annäherung. Yume wird zu Yamas Lehrerin und bestärkt ihn darin, Gedichte zu schreiben und sich nicht weiter von seinem Chef demütigen zu lassen.

Doch bevor sich die Liebe zwischen den beiden Hauptfiguren ganz entfalten kann, begeht Yume eine Tat, die sie für lange Zeit aus dem Verkehr zieht. An dieser Stelle wirft Sukegawa ein Licht auf den nicht unproblematischen Umgang mit sexueller Gewalt in Japan. Die Leser erfahren, dass Yumes Vergangenheit einige tragische Facetten hat, die eng mit der japanischen Rechtsprechung verknüpft sind. Denn lange galt in Japan noch das Sexualstrafrecht von 1907, das eine Verurteilung von Straftätern erschwerte. Erst durch die Reformierung 2017 wurde die Strafverfolgung im Sexualstrafrecht vereinfacht. Yume wird zu einem Beispiel der gesellschaftlichen Perspektive auf die sexuelle Selbstbestimmung in Japan. Als sie sich bei einem Vergewaltigungsversuch wehrt, zeigt der Täter sie hinterher wegen Körperverletzung an. Dieser Vorfall und die daraus folgende Verurteilung verbauen der jungen Kellnerin die Zukunft und sorgen auch dafür, dass sie erneut „straffällig“ wird, als das alte Trauma wieder aufgebrochen wird. 

Damit wird auch das Anbandeln zwischen Yama und Yume unterbrochen. Die beiden, die bisher selbst wie Katzen umeinander geschlichen sind, gehen nun getrennte Wege und sehen sich erst nach vielen Jahren wieder. Für Yama hat die Begegnung aber einen kathartischen Effekt. Von Yume lernt er, dass es manchmal keine andere Konsequenz gibt als sich aufzulehnen und dass Kunst nicht für die breite Masse, sondern den Einzelnen geschaffen wird.

Ähnlich wie in seinem ersten Roman Kirschblüten und rote Bohnen geht es auch in Die Katzen von Shinjuku um gesellschaftliche Diskriminierungen in der japanischen Vergangenheit. Kennzeichnend für die versiert geschriebene Geschichte ist eine durchgehend melancholische Stimmung. Neben dem Sexualstrafrecht spielt ebenso die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Diskriminierung von Menschen mit Farbsehschwäche eine Rolle. Auch Yama fühlt sich ausgegrenzt, weil ihm sein Traumjob aufgrund der Sehschwäche verwehrt bleibt. Am Ende erfährt aber auch Yama die Absolution, als er entgegen aller Erwartungen von einem Fernsehsender eingestellt wird. Der Held der Geschichte überkommt damit die Diskriminierung durch das System indem er dem System weniger Bedeutung beimisst. Vor dem Hintergrund dieses sehr poetischen Leseerlebnisses ist dies eine stimmige Pointe. Schade nur, dass der mit sich hadernde männliche Protagonist eigentlich nur Zuschauer des wirklichen Dramas ist. Denn mit Yume wird eine vom Schicksal immer wieder gezeichnete Frau gezeigt, die als „schöne Leidende“ herangezogen wird, um den Protagonisten auf den rechten Weg zu bringen. Zum Glück geht es auch für Yume als Herrin der Katzen gut aus, denn sie darf am Ende nach Istanbul in die Stadt der streunenden Katzen auswandern.

Titelbild

Durian Sukegawa: Die Katzen von Shinjuku.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
272 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181475

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