Der Deutsche Herbst als Politthriller

Stephan Meier erzählt in „44 Tage. Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war“ von realen Fahndungspannen, politischen Kettenreaktionen und vermeintlichen Selbstmorden

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stephan R. Meier ist der Sohn des ehemaligen Leiters des Bundesamts für Verfassungsschutz Richard Meier (1928-2015). Als solcher hat er viele der Ereignisse des Terrors der RAF, vor allem jene 44 Tage von der Entführung bis zur Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, hautnah aus dem inneren Zirkel miterlebt und sein Insiderwissen in einem Politthriller verarbeitet.

In einem Interview in der 3Sat-Kultursendung Kulturzeit nennt er Einzelheiten wie beispielsweise den „Mädlerkoffer“, den der Vater auch Zuhause immer bei sich trug. Aus seinen Erinnerungen und sehr genauen Recherchen mit dem Ziel, „die öffentlichen Ereignisse mit den persönlichen Erlebnissen in Deckung zu bringen“, hat der heute 62-jährige Autor keine Autobiographie, sondern einen Politthriller geschrieben, bei dem der Vater unter seinem Decknamen Manthey auftritt.

Der Vater Richard Meier, der später aus einigermaßen dubiosen Gründen – einem Autounfall mit seiner damaligen Lebensgefährtin, die an den Folgen verstarb – seinen Dienst quittieren musste, schrieb selbst die Erinnerungen an seine Tätigkeit als BfV-Chef in einem Werk Geheimdienst ohne Maske nieder. Auch wenn das Buch, was die Verkaufszahlen betrifft, eher geringere Resonanz fand, bietet es sich als komplementäre Lektüre in Hinblick auf den Themenkreis geradezu an (Richard Meier: Geheimdienst ohne Maske. Bergisch-Gladbach 1992: Gustav Lübbe Verlag).

Was den Roman seines Sohns betrifft, so hat Stephan R. Meier ein einigermaßen ungewöhnliches Buch geschrieben, das mit einem rechtlichen Hinweis beginnt, worin Meier den Charakter des Werks als „ästhetisch neue, künstlerisch überhöhte Wirklichkeit“ beschreibt. Damit tritt er von vorne herein jeglichem „Faktizitätsanspruch“ entgegen, was keineswegs abwegig erscheint, denn man kann sich unschwer vorstellen, wieviel juristische wie biographische Einwände gegen dieses Buch ansonsten hätten erhoben werden können (und wohlmöglich erhoben worden sind).

Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Meier in seinem Buch fast durchgängig reale Namen benutzt: So tauchen neben seinem Vater u.a. der damalige Bundeskanzler Schmidt, Kanzleramtsminister Schülling, Innenminister Maihofer, Bundesaußenminister Genscher, der Leiter des BKA´s Horst Herold, Regierungssprecher Klaus Bölling, der Sonderbeauftragte der Regierung Hans-Jürgen Wischnewski und der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl auf.

Nur bei wenigen Figuren des Romans wird auf fiktive Namen zurückgegriffen. So heißt der damalige parlamentarische Staatssekretär und spätere Innenminister Gerhart Baum ‚Buche‘, der Polizist und „verhinderte Held“ Ferdinand Schmitt heißt im Buch ‚Rüdiger Bergmann‘, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BND agieren unter anderen Namen oder Pseudonymen (der Leiter des BND heißt ‚P‘) und auch bei einigen der Terroristen, mit Ausnahme der in Stammheim Internierten, werden andere Namen benutzt.

Vor allem bei dem Polizisten Schmitt ist dessen Verbindung zu dem Fall an sich schon äußerst frappant. Dabei handelt es sich um den Mann, der auf den Tipp eines Hausmeisters hin, die Wohnung in Erftstadt-Liblar, Zum Renngraben 8, wo Schleyer die ersten Tage gefangen gehalten wurde, ausfindig machte. Der Tipp wurde an das BKA weitergeben, dort aufgrund von Ermittlungspannen nie weiter verfolgt.

Heute ist davon auszugehen: Wäre das BKA diesem Hinweis nachgegangen, den sein ansonsten so moderner und technikfreundlicher, damals mit einem der weltweit modernsten Computer ausgestatteter Präsident Herold später „einen heißen Tipp auf einer kalten Liste“ nannte, hätte Schleyer befreit werden können. Damit wäre voraussichtlich auch die Kettenreaktion der folgenden historischen Ereignisse wie die Entführung der mit 86 Passagieren und 5 Crewmitgliedern besetzen Lufthansamaschine (Lufthansaflug181) Landshut nach Mogadischu, die Ermordung des Kapitäns Jürgen Schumann und u. U. auch der Selbstmord der Terroristin und der beiden Terroristen in Stammheim zu vermeiden gewesen.

Bei Helmut Schmidts historischer (Fernseh-) Rede zur Lage der Nation vom 25. Oktober 1977, worin er alle Bürgerinnen und Bürger zur Unterstützung der polizeilichen Untersuchungsarbeit auffordert, lag dieser Hinweis dem BKA bereits sieben Tage vor. Der Polizist Schmitt hat diese Missachtung bis zu seinem Tod nicht verwunden. Im Werk nimmt Meier die kolportierte Erzählung auf, wonach der Polizist zu dieser Zeit mit seiner Frau des Öfteren an dem Haus vorbeifuhr und sie mit folgenden Worten auf den Ort hinwies: „Da oben sitzt der Schleyer.“

Was die formale Struktur betrifft, so schreibt Meier in traditioneller Erzählweise aus der Position eines allwissenden Erzählers heraus einen sehr lesenswerten Politthriller in drei Abschnitten, einem Prolog und Epilog, einem Nachwort und einer „Chronologie der Ereignisse im RAF-Terrorjahr 1977“ (Teil I: Wie im Krieg, Teil II: Tragische Helden, Teil III: Stille Zeugen), worin sich die Schauplätze der Kapitel ständig wandeln: Bonn, Köln, Bad Godesberg, Liblar, Stuttgart, (Stuttgart-) Stammheim, Ludwigsburg, Lohmar, Salzburg, Paris, Kairo, Tall-as-Sultan im Gaza-Streifen (bei Jericho, Westjordanland), Al Qa‘idah (Jemen), Aden (Jemen) u.v.m.

Im Grunde ist der Plot Leserinnen und Lesern mit Interesse an der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und dem Schicksalsjahr 1977 präsent, aber dennoch entwickelt Meier bzw. der allwissende Erzähler, aus dem Stoff eine packende Geschichte. Ebenso sind die Personen des Romans bekannt, und doch hat man das Gefühl, den einzelnen Figuren sehr nahe zu kommen, wenngleich Meierausdrücklich darauf hinweist, „dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen und Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist“.

Gleichwohl schafft es der Erzähler, der Leserin bzw. dem Leser den Eindruck zu vermitteln, mit am Tisch des Kleinen wie Großen Krisenstabs (synonym dazu werden im Roman die Begriffe Kleine und Große Lage benutzt) zu sitzen, der damals im Gegensatz zu heutigen Verhältnissen zum Teil mehrmals am Tag einberufen wurde. Das schafft Meier durch seine Fähigkeit einer sehr plastischen Erzählweise, womit er Details miteinander verquickt und wodurch es ihm gelingt, menschliche Regungen von Politikern vor dem geistigen Auge der Leserinnen und Leser entstehen zu lassen. Bisweilen erscheint dieser erzählerische Impetus fast überdimensional entwickelt, sodass bei der Lektüre die Frage entstehen könnte, woher der Verfasser das alles „weiß“.

Der Verfasser weist im Nachwort selbst darauf hin, warum er die Form eines „realistischen Romans“ wählte, zum einen, um noch „lebende Personen oder die Nachfahrer der bei den Ereignissen zu Tode gekommenen“ zu schützen, „Zeitläufe zu straffen, Orte und Geschehnisse bewusst in Gleichzeitigkeit“ zu bringen und zum anderen, um die Ereignisse aus den verschiedenen Perspektiven der Handelnden zu schildern: etwa wenn die Terroristin Lopez auf der Flucht nach Aden plötzlich im Roten Meer an ihre Hamburger Kindheit und das Schlittschuhlaufen auf der Binnenalster in Begleitung ihrer Eltern erinnert wird.

Darüber hinaus stellt Meier erzählerisch die These in den Raum, die ansatzweise von dem Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung und „Chronist der 68er-Bewegung“ Wolfgang Kraushaar vertreten wird, wonach die damalige deutsche Regierung von der Selbsttötungsabsicht der vier prominenten Terroristinnenen und Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller (die einzige Überlebende) gewusst und sie „durch Unterlassung“, sprich nicht erfolgtem Eingreifen, unterstützt habe.

Bis heute wehrt sich der spätere Innenminister Gerhart Baum „aufgrund der Faktenlage“ gegen diese Auffassung, was ein weiterer Grund dafür sein dürfte, warum Meier diese „Behauptung“ in Form von Fiktion darstellt. Wichtige Akten und Dokumente in dieser Sache sind bis heute nicht zugänglich, die damaligen Akteure sind gestorben (als einer der letzten der ehemalige BKA-Chef Horst Herold 2018), sodass die Angelegenheit wohl nie ganz aufgeklärt und für immer ein Geheimnis bleiben wird.

Umso höher ist es Meier anzurechnen, diesen zentralen Punkt in seinem Roman thematisiert zu haben. Darüber hinaus besticht der Roman, den „Opfern des Terrorismus“ gewidmet, durch eine sehr differenzierte Sicht auf die Dinge und zugleich durch das Gespür seines Verfassers für dramatische Zuspitzung. So wird beispielsweise Manthey genau in dem Moment das Dossier über die Nazi-Vergangenheit Schleyers von seinen Mitarbeitern zugespielt, als im Krisenstab über eine Verfassungsänderung und Notstandsgesetze verhandelt wird. Diese Art von Kontrapunktik lässt sich an mehreren Stellen im Roman feststellen, besonders in Hinblick auf die Reflexionsfähigkeit Mantheys. In Zusammenhang damit kommt an nicht wenigen Stellen die Bewunderung des Sohns für den Vater zum Ausdruck, was allerdings nicht „idealisiert“ wirkt und durchaus einen Teil des Reizes der Lektüre ausmacht.

Zudem finden sich im Roman Anspielungen auf Verbindungen zwischen der damaligen und der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft, wenn Buche etwa über den Weg von der Angst zur Wut (anhand des Stichworts Wutbürger) reflektiert oder wenn Manthey darüber sinniert, wie panisch und hysterisch die Politik bzw. die Medien in Angesicht der wirklichen Bedrohung reagieren.

Fühlt man sich damit nicht in die heutige politische Aktualität versetzt, wo eine Bundeskanzlerin sich (am nächsten Tag) öffentlich dafür entschuldigt, dass sie aufgrund der Pandemielage „zwei Ruhetage“ vor Ostern beschlossen hat und dass private wie öffentlich-rechtliche Medien darauf direkt mit Begriffen wie ‚Desaster‘, ‚Chaos‘ etc. reagieren? Damals wie heute scheint man jede Angemessenheit der Reaktion vermissen zu lassen, in einer „psychotisch aufgeladenen Gesellschaft“, wie Ariadne von Schirach es einmal in einem anderen Zusammenhang ausgedrückt hat.

Stephan R. Meier hat einen sehr lesenswerten Roman geschrieben, der auch Nicht-Krimifans begeistern wird. Zugleich stellt dieser ein wichtiges historisches Zeugnis in Hinblick auf ein Schlüsseljahr der Bundesrepublik dar. Sei die erzählerische Zuspitzung auch dem Genre geschuldet, so bietet der Roman doch zugleich viele Ansätze zur (Selbst-)Reflexion, gerade in einer Zeit, in der es wirklich so aussieht, dass nach einer anderen Krisensituation wie der pandemischen Situation, die Welt und damit Deutschland natürlich eingeschlossen, tatsächlich ‚nie mehr so sein wird, wie es vorher war‘.

Darüber hinaus legt die unausgesprochene „Aussage“ des Romans nahe, dass es in der damaligen politischen Extremsituation Deutschlands letztendlich auch darum ging, in Zeiten des Kalten Kriegs und in Anbetracht des Einflusses anderer Geheimdienste und ausländischer Organisationen auf die deutschen Terroristen, der Welt zu zeigen, dass „die perfekteste demokratische Verfassung der Geschichte, welche die Siegermächte Deutschland ermöglicht hatten“, diese Herausforderung bestehen würde. Dass neben der Opposition auch die Presse sich dieser Doktrin im Sinne der „Nachrichtensperre“ zumindest größtenteils unterordnete, und „nur über das berichtete, worum sie gebeten wurde“, erscheint aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar.

Nach Meinung des Verfassers im Nachwort gehörte aber genau diese Verpflichtung auf einen ‚boni communis‘ zu den größten Leistungen der Regierung Schmidt, auch wenn diese damals in Gefahr stand, nachträglich genau jene Maßnahmen anzuwenden, die ihr zuvor von der RAF unterstellt worden waren. Das Nachwort legt zudem nahe, dass der Verzicht auf eine Reaktion als Antwort des Wissens um die Selbsttötungsabsicht der Terroristen („Tötung durch Unterlassung“) die einzige Möglichkeit war, die Terroristen nicht zu Märtyrern werden zu lassen und auf diese Weise erzwungene Verfassungsbrüche oder Überreaktionen der Regierung zu verhindern. Insofern kam dem Lieferwagen, aus dem die Terroristen abgehört wurden, immense Bedeutung zu.

Mit wieviel Zweifel diese Aufgabe der Freiheit zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit verbunden war, wird etwa anhand der inneren Konflikte der FDP-Politiker Buche respektive Baum und Maihofer geschildert. Auf diese Weise „verlor das Nachkriegsdeutschland zugleich seine Unschuld“ und würde fortan nie mehr das sein, was es einmal war. Zum einen empfehle ich den Roman ausdrücklich allen Politthriller-Liebhaberinnen und Liebhabern, darüber hinaus aber zum anderen auch allen Leserinnen und Lesern, die an einem Wendepunkt der Weichenstellung deutscher Nachkriegspolitik und dessen Aufarbeitung interessiert sind.

Titelbild

Stephan R. Meier: 44 Tage. Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war.
Penguin Verlag, München 2021.
464 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783328105442

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