Die Leidenschaften eines Lebens

Bertrand Russells Autobiographie

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Bertrand Russell war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den meisten von ihnen war er schon durch seine Herkunft ausgezeichnet. Als Nachfahre der Herzöge von Bedford und Enkel des liberalen Premierministers John Russell, in dessen Haus in Richmond er, früh verwaist, aufwuchs, gehörte er einer der großen englischen Adelsfamilien an. Doch nicht deshalb, sondern kraft seiner Persönlichkeit wurde er berühmt, weit über die Grenzen seines Landes hinaus. Am Ende seines Lebens gehörte er, wie Golo Mann schrieb, zu den „persönlichen Weltmächten“ (Mann in I, 390), auch ohne ein bedeutendes Amt innezuhaben.

Russell war ein Mensch von ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten, an deren Ausbildung er schon früh arbeitete. Er war u.a. Mathematiker und Logiker, Philosoph und Philosophiehistoriker, Sozial- und Erziehungstheoretiker, praktischer Pädagoge, politischer Publizist und Aktivist. Den ungewöhnlichen, für manche geradezu verwirrenden Reichtum seiner Begabungen nutzte er für eine ebenso ungewöhnliche Freiheit des Denkens. Er hatte einen scharfen Verstand, dessen Prüfung er alles unterwarf. Das trug ihm den Ruf ein, ein Rationalist zu sein – was nicht immer als Kompliment gemeint war.

Russell war ein sozial engagierter Individualist, der sich in der Tradition der adeligen Rebellen des 18. Jahrhunderts sah. Deren politische Unabhängigkeit wollte er gewissermaßen demokratisieren und zur Tugend aufgeklärter Bürger in einer demokratischen Gesellschaft machen. So wurde er auch ein Ethiker, der seine moralischen Glaubenssätze, etwa in „Woran ich glaube“, nüchtern und klar formulieren konnte. In einem seiner bekanntesten Essays legte er pointiert, vielleicht auch etwas zu pointiert dar, „Warum ich kein Christ bin“.

In seinem Leben traf er aus Überzeugung starke und mutige Entscheidungen. Einen nicht unbeträchtlichen Teil seines geerbten Vermögens gab er weg, u.a. ein Aktienpaket, das er T.S. Eliot überließ. Zeitweise verarmte er. Schon früh trat er für das Frauenwahlrecht ein. Wegen eines kritischen Artikels zum Ersten Weltkrieg erhielt er 1916 eine sechsmonatige Gefängnisstrafe und verlor seine Stelle als Lecturer am Trinity College in Cambridge. Als er sie zurückerhalten sollte, lehnte er ab. In einem Aufsehen erregenden Gerichtsprozess wurde 1940 auf dem Klageweg dem College of the City of New York untersagt, ihm eine Gastprofessur zu verleihen, seiner angeblich unmoralischen Vorstellungen über Ehe und Sexualität wegen.

Nach dem Tod seines älteren Bruders, der das Vermögen der Familie durchgebracht hatte, wurde er 1931 Earl, einer der wenigen, vielleicht der einzige mittellose. Lange Zeit blieb er Mitglied der Labour Party, bis er, in der Zeit des Vietnam-Krieges, ihren außenpolitischen Kurs nicht mehr mittragen wollte. Er initiierte mit Albert Einstein kurz vor dessen Tod ein nach ihnen benanntes, aber weitgehend von ihm verfasstes Manifest zur nuklearen Abrüstung. Mit Jean-Paul Sartre rief er, auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit, 1967 das Vietnam-Tribunal ins Leben, das ihn zu dem  vermutlich ältesten Idol der rebellischen studentischen Jugend machte.

1950 erhielt Russell den Nobelpreis für Literatur, für manche, wohl auch für ihn überraschend. Er selbst hat sich allerdings durchaus als Schriftsteller verstanden. Den Plan, sein Leben schreibend zu verbringen, fasste er 1895 in Berlin:

Ich entschloß mich, keinen bestimmten Beruf zu ergreifen, sondern mich der Schriftstellerei zu widmen. Ich entsinne mich eines kalten hellen Vorfrühlingstags, an dem ich im Tiergarten allein spazierenging und Pläne für meine zukünftige Arbeit machte […]. Es war dies ein bedeutsamer, formbildender Augenblick für meine Vorsätze (I, 190-191).

Am Ende umfasste Russells Œuvre fast 700 Veröffentlichungen, darunter mehr als 70 Bücher. Einige wurden Bestseller. Er hielt fast auf der ganzen Welt Vorträge und verdiente mit ihnen in den 20er Jahren mehr, als ihm seine Stelle als Dozent am Trinity College eingebracht hätte. Ein großer Teil seines Werks, neben noch heute maßgeblichen fachwissenschaftlichen Arbeiten, ist politische Publizistik und Essayistik.

Russells gewichtigstes literarisches Werk ist seine dreibändige Autobiographie, die er mit über 90 Jahren von 1965 bis 1967 veröffentlichte. Sie umfasst ungefähr 1000 Seiten, auch weil er seinen eigenen Lebensbericht immer wieder mit einer Auswahl von Briefen von ihm und an ihn unterbricht. Sie dienen ihm dazu, seiner Innensicht eine Außensicht hinzuzufügen und seine eigene Perspektive zu relativieren. So ist eines der seltenen autobiographischen Werke entstanden, das im Kern dialogisch ist.

Der erste Band beginnt mit einem knappen „Wofür ich gelebt habe“ überschriebenen Resümee:

Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für das Leiden der Menschheit. Gleich heftigen Sturmwinden haben mich diese Leidenschaften bald hier-, bald dorthin geweht in einem launenhaften Zickzackkurs über ein Weltmeer von Qual hinweg bis zum letzten Rand der Verzweiflung. (I, 7)

Tatsächlich fällt es nicht schwer, bei der Lektüre der Autobiographie diese drei „Leidenschaften“ als die Leitmotive in Russells Leben zu erkennen – und zugleich als die Leitmotive seines Schreibens. Was immer er veröffentlicht hat, ist aus zumindest einer dieser Leidenschaften zu erklären. Sie stellen den subjektiven Zusammenhang seines breitgefächerten Werks dar.

Die Liebe, so schreibt Russell, erzeuge „Verzückung“, befreie von der „entsetzlichen Einsamkeit“ jedes Lebens und sei, „in mystisch verkleinertem Abbild, die Vorahnung des Himmels“, „wie er in der Vorstellung der Heiligen und Dichter lebt“ (I, 7). Das Streben nach Erkenntnis sowohl über den Menschen wie über die „Sterne“ habe ihn in ähnlich „himmlische Höhen“ versetzt (ebd.). Das Mitleid aber brachte ihn „wieder zur Erde zurück“ – in „die ganze Welt der Verlassenheit, der Armut, des Leids“, die „ein hohnvolles Zerrbild aus dem, was Menschenleben eigentlich sein soll“ (I, 7-8), mache: „Es verlangt mich danach, dem Übel zu steuern, allein ich vermag es nicht, und so leide auch ich“ (I, 8). Das Resümee seines Leben endet gleichwohl mit dem Bekenntnis: „So war mein Leben. Ich hab es lebenswert gefunden, und ich würde es mit Freuden noch einmal leben, wenn sich mir die Möglichkeit dazu böte“ (ebd.).

Russells Selbstcharakteristik lässt erkennen, dass er zwar durchaus ein Rationalist war – und schon sein wohlgeordneter Stil verrät das –, dass er es aber, so wieder Golo Mann, „nie zur Gänze gewesen“ (Mann in I, 382) ist. Er war eigentlich nichts „zur Gänze“ – außer Bertrand Russell, und deshalb konnte er viel sein. Bezeichnenderweise hat er ein Bild für sein Leben gefunden, das keine lineare Bewegung – wohin auch immer – meint: das des stürmischen und darum gefahrvollen Zickzackkurses, des Hin und Her und Auf und Ab.

Russell war zweifellos ein „Humanist“, „mit einem Akzent auf dem Tragischen“ (Mann in I, 370): Einsamkeit und mit ihr Qual und Kummer sah er als eine Tatsache auch seines Lebens an. Die Erfahrung des eigenen Scheiterns, als vierfacher Ehemann, Vater, Politiker und Moralist, bringt er in seiner Autobiographie immer wieder zur Sprache. Doch nicht nur diese Überlegungen machen ihn zu einem ‚tragischen Denker‘ im Sinn Walter Muschgs, in dessen Tragischer Literaturgeschichte er auch einen Platz finden könnte.

Dass ‚das menschliche Leben‘ besser geworden sei im Lauf der Geschichte, hätte Russell nie behauptet. „Das Leben“, schreibt er in Lob des Müßiggangs vielmehr, „zu allen Zeiten reich an Schmerz und Qual, ist heute noch qualvoller als in den vorangegangenen zwei Jahrhunderten“ (Lob des Müßigganges, 49). Fast nebenbei hat er in diesem Essayband auch festgestellt, dass in jedem Menschen „von Natur ein Gut Teil Grausamkeit“ (ebd., 42) stecke.

Russell solcher Einsichten wegen lieblos zu nennen, ja, in mangelnder Liebe den Grund seines Denkens zu suchen, wäre aber verfehlt. Wenn sein Biograph Ray Monk über ihn abschließend urteilt: „He was, it sometimes seems, simply not capable of loving another human being“ (Monk, XII), so liegt dem ein Missverständnis zugrunde. Der immer wieder verzweifelt einsame Russell war zweifellos von Liebe getrieben – zu seinen Frauen, seinen Kindern, seinen Freunden und vielleicht der Menschheit. Aber jemanden oder etwas zu lieben war für ihn auch ein Akt der Entscheidung. Wer die Geschichten seiner Ehen und Affären liest, wie er sie erzählt hat, muss den Eindruck haben, dass Russell Liebe auf den ersten Blick kaum kannte. Meist entschied er sich, die eine oder andere Frau zu lieben, und er entschied sich dann auch, sie nicht mehr zu lieben – besonders deutlich im Fall seiner zweiten Frau. Bei seinen Kindern, zumal seinem ersten Sohn, scheint das anders gewesen zu sein. Doch hat der einst hingebungsvoll liebende Vater auch bei diesem Kind, das sich später in seiner Geisteskrankheit aggressiv gegen ihn wandte, offenbar den Entschluss gefasst, es nicht mehr zu lieben. Das wiederum hinderte ihn nicht daran, sich im hohen Alter der Kinder dieses Sohnes, auch eines adoptierten, anzunehmen. Dass Russell in seinem Leben geliebt hat, ist ebensowenig zu bestreiten wie, dass er es auf seine Weise tat.

Mal um Mal machte er aber die Erfahrung, dass die Menschen anders waren, als er gedacht hatte. Nicht umsonst beginnt sein oft zitierter „Liberaler Dekalog“, der im dritten Band der Autobiographie abgedruckt ist, mit dem Satz: „Fühle Dich keiner Sache völlig sicher“ (III, 80). Das dürfte ein Grund-Satz seines ‚Lebenswissens‘ (Ette) gewesen sein: die Unvorhersehbarkeit der Erfahrungen, die man im Leben macht und die letztlich auch logische oder theoretische Uneinholbarkeit bedeutet. Daraus speiste sich ein Zweifel, der im Letzten nicht zu beruhigen war.

Ob Russell selbst einen Begriff wie Lebenswissen akzeptiert hätte, mag dahin gestellt bleiben. Er bestritt immer wieder, dass es so etwas wie ein ‚moralisches‘ oder ‚ethisches Wissen‘ gebe. Das war in seiner ‚wissenschaftlichen‘ Position begründet, die wesentlich geprägt war von den Naturwissenschaften. Und doch hat gerade er, nicht nur in seiner Autobiographie, auch Lebenswissen ausgebreitet. Es ist allerdings nicht einfach nur erzählte, sondern ebenso bedachte Erfahrung. Formuliert, analysiert und reflektiert geht sie auch in eine – großzügig weit verstandene – Philosophie ein, ohne aber in ihr aufzugehen.

Selbst wenn Russell erzählt, immer lebhaft, oft pointiert, witzig oder ironisch, ist nicht zu übersehen, dass er vor allem ein intellektueller Schriftsteller war – der Gedanken nachging und Ideen prüfte. Dennoch räumte er aber auch der Erfahrung ihr Recht ein, für sein Leben und für sein Denken. Von sich zu erzählen war ihm ein Anliegen und, alles in allem, wohl auch eine Freude. Den Erfahrungen seines Lebens war er nicht weniger verpflichtet als den Erkenntnissen, die er als Logiker und mathematischer Philosoph theoretisch fasste.

Bertrand Russell starb, nach einem langen Leben, Anfang Februar 1970 mit 97 Jahren an der Influenza.

 

Literaturhinweise

Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin. Aus dem Englischen übertragen von Marion Steipe. Reinbek bei Hamburg 4. Aufl. 1970.

Bertrand Russell: Autobiographie I.: 1872-1914. Deutsch von Harry Kahn. Frankfurt a.M. 1972 (I).

Bertrand Russell: Autobiographie II.: 1914-1944. Aus dem Englischen von Julia Kirchner. Frankfurt a.M. 1973 (II).

Bertrand Russell: Autobiographie III.: 1944-1967. Aus dem Englischen von Rudolf Weys. Frankfurt a.M. 1974 (III).

Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. Aus dem Englischen von Elisabeth Fischer-Wernecke. München 4. Aufl. 2006.

 

Golo Mann: Versuch über Bertrand Russell. In: Bertrand Russell: Autobiographie I., S. 363-390 (Mann in I).

Ray Monk: Bertrand Russell. The Ghost of Madness. 1921-1970. New York 2000.

Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Urs Widmer und einer Vorbemerkung von Adolf Muschg. Zürich 2006.

 

Passagen dieses Essays sind zuerst in der Festschrift für Ottmar Ette (Literatur leben. Hg. von Albrecht Buschmann u.a. Frankfurt a.M., Madrid 2016) veröffentlicht worden.

Scherenschnitt von Simone Frieling

Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Wiedergelesen