Mehr als Schrift

Die Texte von Max Kersting bewegen sich an der Schnittstelle von Kunst und Literatur

Von Monique GrüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monique Grüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einseitige Geschichten heißt das aktuelle Buch von Grafiker, Werbetexter und Künstler Max Kersting. Tatsächlich ist jeder der 174 Texte höchstens eine Seite lang, aber das macht gar nichts, denn Bedeutung liegt daneben, darüber, darunter, und so wird aus einer einseitigen Geschichte mindestens eine mit zweien.

Was wir hier lesen können, das sind keine durchkomponierten Geschichten, sondern handschriftliches Rohmaterial. Mit Kugelschreiber gekritzelt, werden Gedankengänge, Umwürfe, Schreibprozesse zugänglich, und aus einem klassischen Leseprozess wird dadurch fast schon einer, in dem uns tatsächlich was erzählt wird. Und wovon uns erzählt wird, das sind teilweise ganz private Gedanken, solche, die du mit guten Freund_innen bei einem Bier auf der Couch bequatschen würdest. Die meisten der Texte sind in handschriftlichen Großbuchstaben geschrieben, und um ehrlich zu sein, das irritiert am Anfang genauso sehr wie mitunter fehlende Satzzeichen. Doch was zunächst womöglich etwas stört, wird bereits nach wenigen Seiten sympathisch, es wirkt authentisch.

Ein handschriftlicher Buchstabe grenzt sich schon deshalb von maschinellen Schriften ab, weil er niemals gleich aussieht – er kann fest aufgedrückt, flüchtig, verschmiert, kaum leserlich sein, und so eröffnet die Art, wie etwas geschrieben wird, eine weitere Rezeptionsebene für das Was des Geschriebenen.

Und wenn wir mal über das Was des Geschriebenen bei Kersting reden wollen, dann lässt sich das gar nicht ganz genau umreißen. Einseitige Geschichten ist ein Sammelsurium an unterschiedlichsten Textsorten. Zu finden sind als Tagebucheinträge, Drehbuch- und Regieanweisungsausführungen, Film- und Buchideen, Aufforderungen und Bitten sowie Tipps, Songtexte oder Rezepte kontextualisierte Texte. An sich schon durch die Handschrift mit illustrativem Charakter ausgezeichnet, finden sich auch visuelle Texte, die mehr Illustration als Wort und dennoch aussagekräftig sind. Bedeutungszusammenhänge, Bezüge zwischen einem Bezeichnenden und einem Bezeichneten, werden ganz subtil verschoben, wenn Kersting ein Textfragment wie „REGEN LIEF ÜBER MEINE BEHAARTEN BEINE GUCK MAL WIE SCHÖN“ mit vertikalen Linien illustriert und nicht mehr klar ist, ob das Bild nun den Regen oder die Haare meint. Einen Sprecher_innenwechsel mit zwei unterschiedlichen Kugelschreiberfarben zu markieren, ist ebenso simpel wie wirksam. Wenn Kersting einen Dialog mit Sprechblasen und Zeitangaben rahmt, dann verortet er diesen innerhalb der digitalen Kommunikation, und plötzlich werden die kommunikativen Regeln aus diesem Kontext auch für den vorliegenden Dialog wirksam, wir interpretieren den Text anders.

Die digitale Kommunikation bewegt sich an der Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und diese nicht immer klar zu unterscheidende Grenze scheint für viele der Texte konstitutiv, denn sie wirken nicht manifestiert, eher wie eine Notiz, ein flüchtiger Gedanke, den man schnell festgehalten hat. Mit flüchtigen Gedanken ist das so eine Sache – manche sind wichtiger, spannender als andere und trotzdem dürfen und sollen sie alle gedacht werden und wenn dem so ist, dann sind sie es auch wert, gelesen zu werden. Von welchem Gedanken, von welcher Idee, sei sie noch so beiläufig, wir dann berührt werden, das ist wie bei jedem Rezeptionsprozess etwas Individuelles und gerade deshalb ist es schön, dass in Einseitige Geschichten Beiläufigkeiten nicht nur gedacht, sondern auch aufgeschrieben werden, dass auch für Unwichtiges, Naives, Kindisches Platz gemacht wird.

Manchmal denkt man, das ist so kindisch naiv und doch logisch. Den Eindruck, dass man kindische Gedanken liest, hat man oft. Genau das wirkt aber vertraut, weil diese Art zu denken, mitunter sogar das Gleiche, jedem von uns innewohnt oder zumindest einmal Teil von uns war. Die Empfindung als vertraute verstärkt sich auch durch alltägliche Bezugspunkte, die Kersting nutzt. Er referiert auf Allgemeinheiten wie bekannte Persönlichkeiten, Süßigkeiten, Orte und Kultur, schildert Alltagsbeobachtungen und erinnert damit teilweise an Pop-Literatur wie Christian Krachts Faserland, erschienen1995.

Obgleich das Buch auch banalen Äußerungen Raum gibt, versteht es Kersting doch mit nur wenigen Worten poetische Narrative aufzubauen. Es überrascht, wie Lächerliches und Ernstes manchmal direkt aufeinander folgen, wie manches so flach daherkommt und anderes vor Tiefgründigkeit nur so trieft.

„UND SELBST WENN DU HEUTE NOCH STARTEST IST ES BEREITS ZU SPÄT ZUM ANKOMMEN LOSGEHEN MUSST DU WEIL DEIN PLATZ IN EIN PAAR TAGEN NICHT MEHR DA IST.“

Kersting macht sich in vielen der 174 Geschichten zur erzählten Figur, zum Protagonisten in der 3. Person, beispielsweise in der Geschichte Die Abenteuer des jungen Max Kersting (Teil 8), in der Max erst nach Nasenspraygebrauch in einen Berliner Technoclub eingelassen wird. Dabei verhandelt er auch mal gesellschaftskritische Themen ziemlich sarkastisch.

„EINE KATZE VERSCHWINDET EIN HANDY VERSCHWINDET EIN MENSCH VERSCHWINDET OH, DA IST ES! DAS HANDY IST WIEDER DA GOTT SEI DANK UND DIE KATZE WAR EH ALT“

Seiner kunterbunten Zusammenstellung an Geschichten stellt der Autor ein paar Gedanken übers Schreiben voran. „ETWAS […], DAS MICH BERÜHRT UND MEHR ALS SCHRIFT IST“, definiert er als Schreiben können, und gleichzeitig stellt er etwas arrogant heraus, dass Menschen, die glauben, sie könnten schreiben, es genau deshalb nicht könnten. Mit der Aussage muss man nicht unbedingt d’accord sein, bleibt sie durch den persönlichen Bezugspunkt doch relativ. Aber was diese Stellungnahme den Geschichten mitgibt, das ist die generelle Offenheit gegenüber allem, was nicht sowieso schon im Diskurs der High End Literatur schwebt.

Die literarische Leerstelle scheint Kerstings beste_r Freund_in. Jede Geschichte, jeder Text funktioniert für sich und gleichzeitig wird nicht klar, ist das gerade ein Anfang, eine Mitte oder ein Ende? Mitunter wird man hier noch stärker zum_r Koautor_in als in anderen literarischen Formaten eh schon. Der Rezeptionsprozess als konstruktiver wird auch durch den tatsächlich les- und damit erfahrbaren Produktionsprozess gefordert. Was bedeutet es, wenn Kersting etwas schreibt und wenn wir als Leser_innen das Gestrichene noch lesen können oder eben nicht mehr, nur noch einen knubbeligen Kugelschreiberfleck sehen? Wie anders wirkt ein Satz, wenn er nicht mehr mit „UND“ beginnt – wird er dann eine eigenständigere Aussage? Manchmal erwischt man sich, wie man denkt „Schade, dass du das weggestrichen hast“, aber es steht ja noch da!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Max Kersting: Einseitige Geschichten.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2020.
192 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783775747882

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