Es war doch möglich

Hermann Stresaus Schicksal ist nur „eins von Tausenden“, und dennoch macht er in seinen Tagebüchern der Jahre 1933-1939 deutlich: „Von den Nazis trennt mich eine Welt.“

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem im März erschienenen ersten Teil der Tagebücher aus der inneren Emigration Hermann Stresaus wird den Leser*innen ein Zeitdokument vorgelegt, das in seiner unprätentiösen Gestaltung auf den ersten Blick Zweifel an seiner Bedeutung für die rückwirkende Betrachtung der Jahre, in denen es verfasst wurde, aufkommen lassen mag.

Hermann Stresau war kein Widerstandskämpfer, er hat keine jüdischen Mitbürger*innen versteckt oder ihnen zur Flucht verholfen, hat keine regimefeindlichen Schriften verfasst und verbreitet, und darauf weist er 1948 im Vorwort der zuerst publizierten Ausgabe seiner Aufzeichnungen auch selbst hin: Der Leser solle in diesen keine Sensation erwarten, er sei nicht im KZ gewesen, habe nur ein einziges Mal, harmlos, mit der Gestapo zu tun gehabt, nicht einmal als Soldat habe er gedient, und so sei sein Schicksal „eins von Tausenden, und nicht sehr interessant.“

Aber sein Wirken unterscheidet sich eben doch von dem vieler anderer, die um ihres persönlichen Vorteils Willen zumindest eine äußerliche Anpassung betrieben, und die in die Partei, die SA oder die SS eingetreten sind, um ihr Weiterkommen zu sichern. Stresaus Aufzeichnungen fügen sich in eine Diskussion ein, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder kontrovers geführt wird: War es möglich, in Deutschland zu leben und zu wirken, ohne sich dem Regime anzuschließen?

Dass das Interesse an dieser Frage nicht endet, zeigen zahlreiche Publikationen, die nach wie vor zur Frage des Verhaltens Einzelner erscheinen. Im vergangenen Jahr beschäftigte sich beispielsweise Anatol Regnier in Jeder schreibt für sich allein mit den Möglichkeiten, die die ‚innere Emigration‘ den in Deutschland verbliebenen Schriftstellern bot. Bereits hier wurde deutlich, dass es so einfach, wie Thomas Mann es 1945 formulierte – dem in den Jahren von 1933 bis 1945 in Deutschland gedruckten Wort hafte ein „Geruch von Blut und Schande“ an – nicht ist.

Hermann Stresau sticht hier jetzt noch einmal deutlich heraus: Gerade in seinem alltäglich erscheinenden Schicksal, in dem er sich regelmäßigen Geldsorgen ausgesetzt sah, in dem er im eigenen Garten Gemüse angebaut hat, um die Existenz zu sichern, und in dem ihm schon aus Karrieregründen über die Jahre hinweg immer wieder nahegelegt wurde, sich der NSDAP oder der SA anzuschließen, stellt seine von ihm selbst nie in Frage gestellte Verweigerung eine beeindruckende Haltung dar. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass seine Tagebucheinträge „geeignet [sind], mich aus der Reihe der Deutschen zu streichen und wahrscheinlich aus der Reihe der Lebenden“.

Inhalt dieser Tagebuchaufzeichnungen sind neben der Schilderung der politischen und gesellschaftlichen Lage Deutschlands auch Stresaus schriftstellerische Arbeiten, seine Übersetzungen und Literaturkritiken, sowie private Kontakte. Gerade im ersten Jahr der Eintragungen, das allein fast die Hälfte des Gesamtumfangs ausmacht, spielt außerdem die berufliche Tätigkeit an der Spandauer Bibliothek eine große Rolle, die er aber noch im Verlauf des Jahres aufgrund seiner Weigerung, sich dem Nationalsozialismus anzuschließen, verliert.

Hermann Stresau schien sich bewusst aus den politischen Aktivitäten herauszuhalten. Er nahm nicht an Kundgebungen teil und war auch kein Augenzeuge der Bücherverbrennung oder der Pogromnacht. Aber er war ein aufmerksamer Leser der Tagespresse, aus der in seinen Aufzeichnungen gesammelte Auszüge zu finden sind, und er verfolgte die Reden vor allem Adolf Hitlers im Radio. Seine Überlegungen zeigen, aus heutiger Sicht betrachtet, durchaus umstrittene Ansichten. Offenbar fühlte er sich zum Kommunismus hingezogen, und immer wieder suchte er das sozialistische Element in den Ideen der Nazis.

Über Kurt Tucholsky notierte er, dass er „wie sein geistiger Vorfahr Heine in politischer Hinsicht nichts taugt“. Zwar grenzte er ihn wie auch Heinrich Mann unter anderem von dem Schriftstellerkollegen Gottfried Benn, der sich früh zum Nationalsozialismus bekannt hatte, ab, nannte aber beide Gruppen gleichermaßen unerfreulich und blasiert.

Außerdem enthalten seine Äußerungen zunächst noch verallgemeinernde antijüdische Formulierungen. Als im September 1933 die Rassegesetze der Nazis erlassen werden, zeigt Stresau sich aber deutlich von der „Unmenschlichkeit und Gemeinheit“ betroffen. Äußerungen wie die oben genannten tauchen in der Folgezeit nicht mehr auf, in allen persönlichen Kontakten zu jüdischen Mitbürger*innen zeigt er sich aufgeschlossen und empfiehlt dringend, das Land zu verlassen.

In der Bewertung der außenpolitischen Ziele des Regimes war Hermann Stresau einige Male einer Meinung mit der Führung, sah aber die nicht zuletzt durch das undiplomatische und kompromisslose Auftreten Hitlers gegebene zunehmende Verschärfung der Kriegsgefahr immer mit großer Sorge. Mehrfach hinterfragte er seine eigene Einstellung, um dann aber doch immer wieder zu dem Schluss zu kommen, sich den Nationalsozialisten auf keinen Fall anzuschließen. Letztendlich blieben diese ihm „ebenso fremd wie ein exotischer Volksstamm“.

Insbesondere Hitlers Fähigkeit, die Menschen mitzureißen, ließ ihn nicht unbeeindruckt. Diese Beobachtungen schienen in ihm von Anfang an eine Mischung aus Respekt und tiefer Sorge auszulösen. So ist ein wesentlicher Aspekt, der in Stresaus Notizen immer wiederkehrt, die Differenzierung der Begriffe ‚Volk‘ und ‚Masse‘: Während es sich beim Volk seiner Meinung nach um eine denkende Gruppe handelte, der er auch 1938 noch zuzutrauen schien, das Schlimmste abwehren zu können, drohte gleichzeitig immer ihre Verwandlung zu einer „bloßen Masse“, die er als unbedingt gefährlich ansah, und die er immer dann erkannte, wenn sie fanatisch an den Reden des „Derwischs“, des „Hexenmeisters“, des „Dämons“ Hitler teilnahm. Der Kontrast zwischen beiden Gruppen beschäftigte ihn offenbar stark: „Begeisterungsstürme, sobald die Massen auftreten, und überall dumpfe Hoffnungslosigkeit oder Wut. Kommt man unter die Leute, so wundert man sich, wo eigentlich die vielen Anhänger stecken. Wie reimt sich das zusammen?“

Mit der Beobachtung dieser Verwandlung vom Volk in „die Massen“ einher geht die Veränderung, die sich unter den Menschen im Einzelnen vollzieht, einer der spannendsten Punkte in Stresaus Aufzeichnungen: Über die Jahre wird deutlich, wie das Misstrauen in der Bevölkerung und damit der allgemeine Druck wächst. Gerade die Schilderung entsprechender Situationen im Kontext des Alltäglichen machen deutlich, wie umfassend die Bedrohung war. Obwohl Stresau offenbar ein sehr positives Verhältnis zu Peter Suhrkamp hatte, vermieden beide den Austausch über politische Meinungen.

Im Privaten beobachtete der Schriftsteller bereits Anfang 1935 die Angst einer Mutter wegen der unbedachten Äußerung ihres Kindes, oder die Gefahr, der sich ein Gärtner wegen eines harmlosen Scherzes aussetzte. 1937 musste das Ehepaar Stresau fürchten, mit der Haushaltshilfe „eine Schlange in unser Paradies gelassen zu haben“, und den Journalisten W. Finck sah er aufgrund seiner doppeldeutigen Texte ständig in der Nähe des Konzentrationslagers, dem Milchmann war nicht zu trauen, und der wiederum wurde von seinem eigenen Knecht bespitzelt.

In diesen Schilderungen der alltäglichen Begegnungen wird greifbar, wie groß die Gefahr für jede*n Einzelne*n tatsächlich war: „Keiner oder fast keiner darf sich angesichts der nationalsozialistischen Praxis hinsichtlich seiner Vergangenheit so unbelastet fühlen, daß er nicht gefährdet wäre, wenn es dem Nachbarn einfällt, ihm was anzuhängen.“ Scharfsinnig sah Stresau außerdem kommen, was nicht ausbleiben konnte: „Sie werden hinten vom Pferd rutschen, wenn dieses zu galoppieren beginnt, und dann werden sie sagen: das haben wir nicht gewollt!“

Die innere Emigration als Haltung findet sich, auch wenn sie erst nach dem Krieg zum festen Begriff und zum Streitpunkt zwischen den ansässigen und den emigrierten Kollegen wird, bereits 1933 in Hermann Stresaus Aufzeichnungen: „Es ist schon so, daß wir, die wir nicht mit dem, was vorgeht, übereinstimmen können, irgendwie in der Luft hängen, wir sind somit emigriert, auch wenn wir nicht ins Ausland gehen.“

Die Tagebuchaufzeichnungen zeigen weder einen Helden noch einen, dessen Ansichten aus heutiger Sicht makellos sind. Stresaus feine Beobachtungsgabe der unmittelbaren Umgebung aber zeichnet ein Bild, in dem, obwohl vergleichsweise unaufgeregt und unspektakulär, eben gerade deshalb der ganze Schrecken, der innere Terror und die Angst spürbar werden. Zudem fasziniert seine scharfsinnige Auseinandersetzung mit der Frage, wie aus einem Volk eine bedrohliche Masse werden konnte, in der Distanzierung aber offensichtlich dennoch möglich war.

Titelbild

Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der inneren Emigration 1933-1939.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
448 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983296

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