Refugium und Russenkasernen

Katja Stahl gibt eine Anthologie von Gedichten heraus, die von 1992 bis 2018 in Schloss Wiepersdorf entstanden

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schloss Wiepersdorf, ein Herrenhaus im Brandenburgischen, unweit von Jüterbog gelegen, ist seit der Zeit der Romantik ein Dichterort. Untrennbar ist das Schloss mit dem Namen der ehemaligen Besitzer Achim und Bettina von Arnim verbunden, auch wenn letztere (zuweilen Bettine genannt) hier nur drei Jahre zubrachte. Beide haben in Wiepersdorf ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Das Schloss (historisch „Schloß“) war zu DDR-Zeiten eine Begegnungsstätte für Schriftsteller und andere Geistesschaffende. Damit befasst sich die 2012 im Ch. Linksverlag erschienene Veröffentlichung Schloss Wiepersdorf. Das „Künstlerheim“ unter dem Einfluss der Kulturpolitik in der DDR. Dort geht die brandenburgische Literaturexpertin Dr. Friederike Frach auch auf „das Spannungsfeld von individueller Kreativität und staatspolitischer Kontrolle“ ein. Wiepersdorf war damals „Arbeits- und Erholungsstätte“ nicht nur für Dichter, weshalb es in angeregten Gesprächen nicht ausschließlich um Versmaße oder Erzählperspektiven ging. Aus der anregenden Gesellschaft konnte man sich zwanglos ins stille Arbeitszimmer zurückziehen, Leute aus dem „Tal der Ahnungslosen“ taten dies auch gern wegen des Fernsehers.

Nach dem Umbruch 1989 ging Schloss Wiepersdorf zunächst in den Ruhestand. Ab 1992 fanden auch bildende Künstler hier Ateliers und eine Ausstellungshalle für das Schaffen und öffentliche Präsentieren neuer Werke. Es folgten wechselvolle Jahre bis zur Schließung Ende 2004. Mit dem Neubeginn im Jahre 2006 unter der Ägide der „Deutschen Stiftung Denkmalschutz“ begann mit Unterstützung des aktiven Freundeskreises eine neue fruchtbare Periode, die mit der vorübergehenden Schließung wegen dringenden Renovierungsbedarfs 2018 zu Ende ging. Die Zukunft der literaturgeschichtlich bedeutsamen Stätte liegt nun weitgehend in der Verantwortung der 2019 vom brandenburgischen Landtag ins Leben gerufenen „Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf“. Jetzt wurde in Wiepersdorf wieder angestrengt und erfolgreich für die Literatur gearbeitet.

Die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Katja Stahl, die mit einem Buch über den Dichter Karl Krolow ihre kenntnisreiche Affinität zur Lyrik nachwies, hat eine Anthologie von Gedichten zusammengestellt, die in Wiepersdorf entstanden sind. Nun gibt es dort kein Archiv für den literarischen Ertrag beim Aufenthalt an dem geschichtsträchtigen Ort. Die Herausgeberin stellte darum während des zweijährigen Recherchierens den Kontakt mit Autoren her, die als Stipendiaten ihre Werkausgaben an die dortige Bibliothek übergeben hatten.

Stahl beschränkte sich auf Arbeiten aus den Jahren 1992 bis 2018. So sehr man sich wünschte, anhand eines Vergleichs mit „Wiepersdorfer Lyrik“ von DDR-Autoren gewisse Entwicklungslinien und Brüche zu studieren, versteht man anhand der Quellenlage die Beschränkung.

Dieser Zeitrahmen wird einmal aus gutem Grund gesprengt. Volker Braun schrieb seinen Prolog zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles am 11. Oktober 1989 im September 1989 in Wiepersdorf. Die vier Abschnitte dieses Prologs dienen hervorragend dem tieferen Verständnis für die Umwälzungen, die viele der in der Sammlung enthaltenen Gedichte erst möglich machten.

Noch vor dem Prolog stehen Zeilen von Thomas Rosenlöcher, die mit den ersten Worten „Geh in Gedanken mit Armin spazieren“ direkt zum Buchtitel führten. Warum sonst nichts aus Rosenlöchers Gedichtband Am Wegrand steht Apollo aufgenommen wurde, begründet die Herausgeberin überzeugend. Sie legt auch dar, warum weder ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben noch eine literaturwissenschaftliche Analyse vorgenommen wird.

Unbedingt zu erwähnen sind die biographischen und bibliographischen Angaben zu den 25 Dichterinnen und Dichtern von A wie Aigner bis Z wie Zschorsch – eine Fundgrube für weitergehende Beschäftigung. An dieser Stelle konnte nicht auf die unterschiedlichen Handschriften und Sichtweisen der Gedichte eingegangen werden.

Gemeinsam ist allen Texten, dass Wiepersdorf nicht nur als weltenfernes Refugium wahrgenommen und dargestellt wird. Die romantische Vergangenheit und die ungewisse Gegenwart und Zukunft, das ehrwürdige Haus, sein Park und die Skulpturen wie auch Bettinas Grab kommen ebenso zur Geltung wie die in der Umgebung zahlreichen aufgelassenen Kasernen und Manövergelände der Sowjetarmee. Und natürlich ist von den Pflanzen und Tieren der Gegend die Rede, wobei der vor Jahrzehnten hier bewunderte emsig hämmernde Specht wenigstens einmal erwähnt wird.

Wer das Glück hatte, Tage der Arbeit und Erholung in Wiepersdorf zu verbringen, hat gewiss empfunden, was Sabine Schiffner kurz und bündig so formuliert:

schau wenn du in den park gehst geht der
park in dich hinein

Titelbild

Katja Stahl (Hg.): Mit Arnim spazieren. Schloss Wiepersdorf – Poesie eines Dichterortes.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
156 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835339361

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