Was es bedeutet, eine Frau zu werden

Esther Becker beschreibt in „Wie die Gorillas“ den gesellschaftlichen Druck, der auf heranwachsende Frauen ausgeübt wird

Von Lea WunderlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Wunderlich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wem gehört mein Körper? Wer hat das Recht, über ihn zu bestimmen? Dieser Fragen nimmt sich Esther Becker in ihrem Debütroman Wie die Gorillas an. Die Dramatikerin, Schriftstellerin sowie Performerin wurde 1980 in Erlangen geboren und lebt in Berlin; zahlreiche Veröffentlichungen in verschiedenen Magazinen und Anthologien gingen dem Roman voraus; Beckers Theatertexte wurden bereits mehrfach ausgezeichnet und in Deutschland wie auch in der Schweiz aufgeführt.

Episodisch begleiten die Leser*innen die namenlose Ich-Erzählerin auf ihrem Weg vom Mädchen zur Frau. Dabei setzt Becker den Fokus auf die weibliche Körperlichkeit und den Wunsch nach Selbstbestimmung. Es beginnt bereits in der Kindheit, wenn der Arzt zusammen mit mehreren Helfern die Ich-Erzählerin festhalten muss, damit er ihr Augentropfen verabreichen kann:

Ich winde mich mit aller Kraft, sie halten meine Arme überkreuz am Rücken fest, damit ich nicht um mich schlagen kann, meine Füße treten ins Leere, ich sehe ja nichts. Eine Hand hält mein Kinn fest, eine andere meine Stirn. Meinen Kopf fixiert, machen sie sich daran, mein rechtes Augenlid zu öffnen.

Mit einfacher, klarer Sprache stellt Becker die Brutalität eines eigentlich alltäglichen Vorgangs heraus und wirft gleichzeitig nicht nur die Frage nach den Grenzen der Selbstbestimmung auf, sondern auch danach, inwiefern die Gesellschaft den/die Einzelne/n zur Aufgabe der körperlichen Eigenständigkeit zwingt. Besonders Letzteres zieht sich als roter Faden durch den Roman. In Übereinstimmung mit der Verkäuferin sucht die Mutter einen Bikini für die Ich-Erzählerin aus. Die Betroffene selbst muss mit dieser Entscheidung leben und mit den unpraktischen Stoffdreiecken, die ihre Brüste verdecken sollen, zurechtkommen. Schließlich zieht die Ich-Erzählerin ihr Bikinioberteil nicht mehr an. „Was ist das? Der Schwimmlehrer ist verunsichert. Nichts. Es ist ja auch nichts. Meine Brust ist flach wie ein Brett, sie unterscheidet sich in keiner Weise von der der Jungs, die alle in Shorts herumlaufen.“ Und doch ist ihr Körper anders, wird ihre Nacktheit schon in jungen Jahren problematisiert und sexualisiert. Auch als Jugendliche kann sich die Ich-Erzählerin der Kontrolle von außen nicht entziehen. Auf Veranlassung der Mutter bekommt sie die Antibabypille verschrieben, deren Nebenwirkungen den Körper der Ich-Erzählerin entstellen. Der Kampf gegen Akne und Gewichtszunahme erfolgt schambehaftet und im Geheimen, getreu dem Motto: Jede muss dem Schönheitsideal entsprechen, doch keine darf zeigen, wie sie dieses Ideal erreicht. Der Rasierer wird heimlich in die Schwimmbaddusche geschmuggelt und der Diätshake auf der Schultoilette ausgepackt. Körperliche Selbstbestimmung müssen sich die Ich-Erzählerin und ihre zwei Freundinnen Svenja und Olga auf einem anderen Weg erkämpfen. Tattoos und Piercings sind dabei die Mittel der Wahl.

Becker verbindet die Drastik ihrer Darstellungen mit einer gewissen Komik. Die aufstrebende Schauspielerin Svenja muss für eine Theaterinszenierung ohne Oberteil auf High Heels über Kartoffeln laufen. Obgleich diese Beschreibung auf die Leser*innen zunächst lustig wirkt, stellt sie doch die sinnlose Objektifizierung des weiblichen Körpers auf eindringliche Weise dar. Im Gegensatz zu Svenja entscheidet sich die Ich-Erzählerin als junge Erwachsene bewusst dafür ihren Körper zur Schau zu stellen. An einer Kunsthochschule nimmt sie eine Stelle als Aktmodell an und lässt sich von den Studierenden zeichnen. Hier erfährt sie zum ersten Mal Akzeptanz gegenüber ihrem Körper: „Die Studierenden freuen sich über meinen Körper, er gibt ihnen zu tun. Sie können sich verausgaben an meiner Wirbelsäule, den Sehnen an meinen Händen und Füßen. Sie lieben mein Gesicht mit den engstehenden Augen.“

Während Olga Medizin studiert und Svenja die Schauspielschule besucht, erscheint die Ich-Erzählerin nach dem Schulabschluss planlos. Schließlich schreibt sie sich für einen Studiengang der Medienwissenschaften ein, schiebt Hausarbeiten auf und simuliert das Studieren eher als es wirklich zu tun. Aufgrund ihres distanzierten Verhältnisses zu ihren Eltern bleibt der Protagonistin deren Fürsorge bis kurz vor Ende des Romans verwehrt. Sogar als die Ich-Erzählerin beinahe vergewaltigt wird, beschließt sie: „Ich erzählte meinen Eltern nichts, damit sie sich keine Sorgen machen und weil ich ihnen auch sonst nichts erzähle.“ Auf diese Weise wird die Ich-Erzählerin als ein Charakter portraitiert, der nicht nur unter dem gesellschaftlichen Druck leidet, den vorgegebenen Schönheitsidealen zu entsprechen, sondern sich auch nach Zuwendung sehnt. Besonders diese Facette bringt die Protagonistin den Leser*innen näher und lässt Verständnis zu.

Charakteristisch für den Roman ist das gleichzeitige Erzählen. Die Erlebnisse der Hauptfigur erscheinen dadurch den Leser*innen als besonders präsent. Kurze Analepsen durchbrechen immer wieder den Erzählstil und geben einen Einblick in die Erinnerungen der Ich-Erzählerin. Eine Reflexion über ihr eigenes Verhalten findet jedoch nicht statt. Vielmehr werden die Leser*innen mit dem Rohmaterial der Gefühlswelt der Protagonistin konfrontiert.

Jedoch erlaubt es Becker den Leser*innen nicht, ganz nah an die Figuren heranzukommen. Olga und Svenja sind die einzigen Figuren, die beim Namen genannt werden. Sogar der erste feste Freund der Ich-Erzählerin bleibt namenlos und wird dadurch schnell wieder vergessen.

„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden?“, leitet Becker herausfordernd zwei kursiv gedruckte Einschübe ein, die sie beide direkt an die Leser*innen richtet. Durch die Frage nach den Erwartungen und Ansprüchen, die an eine heranwachsende Frau gestellt werden, werden die Leser*innen dazu angehalten selbst über ihre Denkmuster zu reflektieren. Im weiteren Verlauf der Einschübe führt Becker eine veraltete Sichtweise auf die erwachende weibliche Sexualität vor. Lesbische Liebe wird für ein Gerücht gehalten und die Sorge, dass die durch die Pubertät entstellte Tochter keinen festen Freund findet, zum Ausdruck gebracht. „Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann?“ Was, wenn sich der unschuldige Kinderkörper beginnt in den sexualisierten Körper einer Frau zu verwandeln und die Jugendliche ihre ersten Erfahrungen mit sexueller Belästigung macht? Sie wird es hinnehmen müssen. „Eine gewisse Gewöhnung kann nicht schaden.“ – und wenn sie es doch so sehr stört, so soll sie eben längere Röcke tragen. Mit diesen Aussagen gibt Becker provokant und direkt eine Stimme wieder, die, wenn auch leiser geworden, innerhalb der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts immer noch hörbar ist.

Obwohl das Thema der sexuellen Belästigung gegenüber Frauen bis heute nicht an Relevanz verloren hat, stellt sich die Frage, ob es nicht auf eine aktuellere Weise hätte aufgegriffen werden können. So bedient sich Becker einer Aussage Stephen Kings, der in Bezug auf seinen bereits 1974 erschienen Roman Carrie die Sorge geäußert haben soll, „dass sich niemand für die Probleme menstruierender Mädchen interessieren werde.“ Auf der anderen Seite unterstreicht dieses hergebrachte Zitat die Tatsache, dass die Menstruation auch heute noch eher ein Tabuthema ist. Und dennoch hätten aktuellere Bezugspunkte Wie die Gorillas vor allem für die jüngere Generation zugänglicher gemacht.

Beckers Debütroman ist nicht der erste, der sich mit Themen wie weiblicher Selbstbestimmung und dem gesellschaftlichen Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, auseinandersetzt. Trotzdem behält Wie die Gorillas seine Berechtigung und vor allem seine Relevanz, denn hier werden alltägliche Situationen beschrieben – das Leben einer jungen Frau, die unter restriktiven Schönheitsidealen und dem dadurch entstehenden Druck leidet. Indem Becker für ihre Hauptfigur einen glaubwürdig erscheinenden Lebensweg zeichnet, wirkt die Kritik am Umgang mit dem weiblichen Körper eingängig. Gerade deshalb lohnt sich die Lektüre, denn sie vermag es, wachzurütteln und zum Nachdenken über die eigenen Denkmuster anzuregen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Esther Becker: Wie die Gorillas.
Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
160 Seiten, 19 EUR.
ISBN-13: 9783957324702

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch