Verstörend und packend

Mit seinem zweiten Roman „Der Freiwillige“ legt der 1975 geborene US-Amerikaner Salvatore Scibona ein komplex konstruiertes und ebenso verstörendes wie packendes Buch vor

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2010 wird am Hamburger Flughafen ein fünfjähriger weinender Junge aufgegriffen, dessen Sprache niemand versteht und der schließlich verstummt. Von hier aus erzählt Salvatore Scibona seinen Roman rückwärts und blendet zu Elroy Heflins über, der nach zwei Haftstrafen in die Armee eintritt und nach Lettland versetzt wird, das kurz vor dem NATO-Beitritt steht. Er schwängert eine Lettin, um dann als Soldat weiter nach Afghanistan zu ziehen und plötzlich damit konfrontiert zu werden, seinen Sohn zu sich nehmen zu sollen: „Manchmal schlug man den falschen Weg ein, um am Ende wieder auf dem richtigen zu landen.“

Von diesem Erzählzweig geht es noch weiter zurück in das Jahr 1950, in dem auf einer kleinen Farm in Iowa Dwight Elliot Tilly geboren wird, der von seinen Eltern nach einer Meningitis mit Fiebervisionen der „Volunteer“ genannt wird. Obwohl er seine Eltern über alles liebt, verpflichtet er sich mit einer gefälschten Unterschrift von ihnen schon mit 16 Jahren bei der Armee und wird in die Hölle des Vietnam-Krieges geschickt – bis er schließlich nach einer geheimen Kommandoaktion in Kambodscha zusammen mit zwei Kameraden von den Vietcongs gefangen genommen wird und 412 Tage in einem dunklen Tunnelsystem dahinvegetiert und als Einziger überlebt.

In einer leicht kafkaesken Volte wird Tilly daraufhin von einer dubiosen Geheimdienstorganisation angeworben, bricht dafür alle Kontakte ab und nimmt eine neue Identität an. Sein Engagement endet mit Toten und er setzt sich nach New Mexico ab, wo er auf einer Farm-Kommune seinen alten Freund Bobby Heflin zu treffen hofft. Stattdessen trifft er auf Louisa und den kleinen Elroy und lebt mit ihnen eine Weile zusammen – bis er von seiner Vergangenheit eingeholt wird.

Mit dem fünfjährigen Jungen vom Hamburger Flughafen verknüpfen sich diese Erzählstränge immer weiter und führen in eine Welt voller Schmerz, Leiden und (Kriegs-)Traumatisierungen, voller falscher Entscheidungen und Trennungen, aber auch in eine Welt des unbedingten Überlebenswillen, der Leidensfähigkeit und der inneren Prinzipien. Salvatore Scibona erzählt all das in einer lakonisch-rauen und eigenwilligen Prosa, die eine Welt entstehen lässt, die immer im doppelten Sinne ein wenig „verrückt“ zu sein scheint und in der schon immer die nächste Katastrophe wartet.

Und fast, nachdem in dieser verzwickten Identitäts- und Familiengeschichte schon so entsetzlich viel schiefgelaufen ist, scheint dieser Autor seinen außergewöhnlichen Roman in einer Art Happy End münden zu lassen. Doch dann schlägt das Schicksal wieder erbarmungslos zu und erteilt dem Leser seine Lektion: „Niemand von uns ist geschützt […] Eine Welt wird kommen, die uns den Boden unter den Füßen wegreißt“. 

Titelbild

Salvatore Scibona: Der Freiwillige. Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Bettina Abarbanell.
Berlin Verlag, Berlin 2021.
560 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch