Eine atemlose Reise durch die Epochen der Zeit

Beatrix Langners „Der Vorhang“ verliert sich im Meer der Erinnerungen und Möglichkeiten

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vergangenheit ist nicht tot, und deshalb begibt sich Beatrix Langner in dieser (beinahe) wahren Geschichte, so der Untertitel des Romans, auf die Spuren der Zeit. In atemlosen Sätzen durchreist sie sowohl Gegenwart, Nachkriegszeit und Nazizeit wie auch geologische Zeitepochen von der fernen Vergangenheit des Archaikums bis in eine imaginäre Zukunft. Selbst die Sprache verändert sich, die Ereignisse der Gegenwart und näheren Vergangenheit werden in einem realistischen Stil erzählt, die ferne Vergangenheit und erdachte Zukunft eher surrealistisch und ausschweifend. Kindheitserinnerungen bieten Anlass für Nachforschungen in die Geschichte des Ortes, in dem die Erzählerin aufgewachsen ist, und der lange Abschied von der Mutter, die sie nach einem Schlaganfall pflegt, veranlasst ein (leider relativ oft in Allgemeinplätze verfallendes) Nachdenken über Eigenarten der Erinnerung.

Obwohl das Konzept des Romans kreativ und gedankenanregend ist, scheitert die Ausführung letztendlich daran, dass die Autorin versucht, zu viel gleichzeitig zu bewältigen. Ein Riss geht durch Deutschland, nicht nur der Riss zwischen Ost und West, sondern auch der Riss durch die Erde, ausgelöst durch den Braunkohletagebau Hambach – so weit so gut. Aber der Versuch, so viele Geschichten zu erzählen, die alle irgendwie miteinander zusammenhängen, überwältigt und geht gleichzeitig nicht tief genug. Der Vorhang ist die Geschichte einer Kindheit in einer provinziellen rheinischen Kleinstadt, geprägt durch Enge, Intoleranz und die ohnmächtige Wut eines Vaters, der seine Tochter auch für den kleinsten Ungehorsam harsch bestraft. Es ist die Geschichte der jüdischen Bevölkerung des Ortes, der vielen Menschen, die ermordet und dann vom Rest der Bevölkerung vergessen wurden, die der Spurensuche der Erzählerin nach ihrer eigenen Vergangenheit unterlegt ist.

Es ist die Geschichte der Zerstörung der Natur im Namen der billigen Energiegewinnung, bei der nicht nur Bäume (deren langes genetisches Gedächtnis zelebriert wird), sondern auch uralte Dörfer zu Geiseln der Energiewirtschaft werden. Es ist die Geschichte des Erinnerns, der Suche nach dem, was Individualität und Beziehungen prägt, das Verstehen-Wollen der Erzählerin und des Dahinsinkens in das Vergessen ihrer Mutter. Und, in dem meiner Ansicht nach schwächsten Teil des Romans, ist es ein surrealistischer Ausflug in die Vorvergangenheit und in die imaginäre Zukunft der durch Klimawandel und Braunkohletagebau zerstörten Erde. Bei all dem fehlt eine klare Struktur, ein roter Faden, der die Lesenden durch die Zeitebenen begleitet. Die Anordnung der gedanklichen Stationen, mit denen sich die Erzählerin auseinandersetzt, erscheint oft willkürlich und von daher schwer nachvollziehbar.

Positiv sind die kreativen Einsprengsel, die hin und wieder diese Tour de Force unterbrechen und zum Reflektieren einladen. Beispiele hierfür sind das Nachdenken der Erzählerin darüber, ob es wohl ein Fundbüro für Erinnerungen gibt, die von ihren Besitzern verloren wurden, oder dass die Überlebenden nach dem Krieg ihre Zeit die Nachkriegszeit nennen, weil niemand sich den Frieden vorstellen kann. Auch der von der Erzählerin wiederholt benutzte Begriff der missglückten Heimat ist aussagekräftig, wohingegen Phrasen wie „die Erde ist müde geworden“ und „die vergewaltigte Landschaft“ zu klischeebeladen sind. Die Autorin versucht das von Vergessen durchpflügte Meer aus Zeit sichtbar zu machen und ruft dabei so viel Gespenster auf, dass die durchaus vorhandenen Lichtblicke im Mischmasch des Alles-hängt-mit-allem-zusammen verloren gehen.

Titelbild

Beatrix Langner: Der Vorhang. eine (beinahe) wahre Geschichte.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
189 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800198

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