Massenwahn und „irdisch Absolutes“.

Paul Michael Lützelers große Studie über Hermann Broch und die Menschenrechte

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kapitalismus spornt im Auf und Ab der Marktlage die Menschen zu Höchstleistungen an, zu einer Leistungshypertrophie, die sich einerseits als „Rekord-Versklavung“, andererseits als „Krisen-Versklavung“ präsentiert […], der dahinterstehende Sklavenhalter ist abstrakt, und er ist die Wirtschaft als solche.

Diese Sätze stammen weder von Thomas Piketty noch von Sarah Wagenknecht, sie finden sich in Hermann Brochs zwischen 1939 und 1948 entwickelter Massenwahntheorie; und sie belegen sowohl die wirtschaftspolitische Klarsicht als auch die demokratietheoretische Weitsicht eines Autors, dessen literarisch-essayistisches Werk sich wie kein zweites im 20. Jahrhundert der wechselseitigen Erhellung von psychologischen und mentalen, kulturellen und sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der europäischen Gesellschaften verschrieben hat.

Der Autor der Schlafwandler-Trilogie, der Romane Die Schuldlosen, Die Verzauberung, Der Tod des Vergil, der Verfasser von Novellen und politisch-philosophischen Essays, der unermüdliche Briefeschreiber und der engagierte Zeitgenosse Hermann Broch hat auf die Katastrophen und Krisen seiner Zeit, auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, auf seine militärischen Erfolge mit Empörung und Entsetzen reagiert; folgerichtig hat ihn der Sieg der Alliierten über Hitler und das Ende des Krieges nicht lediglich erleichtert, sondern mit großen weltpolitischen Hoffnungen erfüllt. Aus der Sicht des seit 1938 im amerikanischen Exil lebenden Autors – und nicht nur aus seiner Sicht – bot sich mit dem Sieg über den deutschen Faschismus die Chance einer globalen Friedenssicherung und zugleich einer Fundierung der Demokratie im Ethos der Menschenwürde.

Die im Juni 1945 verkündete Charta der Vereinten Nationen, die „Menschenfreiheit und Menschenwürde“ als „oberstes Gut“ offiziell anerkannte, hat Broch ebenso begrüßt wie die UNO-Menschenrechts-Deklaration vom Dezember 1948. Er hat diese völkerrechtlichen Entwicklungen auf vielfältige Weise literarisch und essayistisch vorbereitet, begleitet und mitgestaltet. Früh und schmerzlich ist Broch dabei der Widerspruch zwischen einem ethisch verbindlichen allgemeinen Menschenrecht und einem politisch zu respektierenden „Nichteinmischungsprinzip“ der Nationalstaaten deutlich geworden. Es war Hermann Broch, der 1948 den Begriff der „Anti-Versklavung“ prägte und in der Massenwahntheorie bündig definierte: „Demokratie ist Anti-Versklavung, ja sie kann geradezu als solche definiert werden“. Dass Versklavung kein Phänomen der kolonialen Vergangenheit ist, dass sie – wie die eingangs zitierten Sätze zeigen – unter Bedingungen des globalen Kapitalismus systemisch und damit ein struktureller Verstoß gegen die Menschenwürde ist, all dies hat Hermann Broch früh gesehen und bis an sein Lebensende in theoretisch-essayistischen und literarisch-erzählerischen Werken kritisch diagnostiziert.

Hermann Brochs Bedeutung für die politisch-argumentative und die organisatorisch- institutionelle Fundierung der Menschenrechte, seine Beiträge zu einer Weltfriedensordnung, die eine internationale „Bill of Rights“ mit einer internationalen „Bill of Duties“ verknüpfen sollte, seine Vorschläge zur „Gründung eines Forschungsinstituts für politische Psychologie und zum Studium von Massenwahnerscheinungen“ oder zur Einrichtung eines „Internationalen Instituts für Friedens-und Demokratieforschung“ sind denn auch gelegentlich durchaus gewürdigt worden.

Eine tatsächlich umfassende Rekonstruktion seines literarischen und theoretischen Denkens über Menschenwürde und Menschenrechte, vor allem seine Überlegungen zur „Anti-Versklavung als Ethos der Welt“ – so der Untertitel – liefert nun das Buch von Paul Michael Lützeler. Als Herausgeber der großen kommentierten Werkausgabe Hermann Brochs sowie eines eigenen Bandes mit politischen Schriften über „Menschenrecht und Demokratie“, als Editor wichtiger Briefwechsel (darunter diejenigen mit Hannah Arendt, Erich von Kahler, Thomas Mann und Frank Thiess) und schließlich als Verfasser zahlreicher Bücher und Aufsätze über Broch darf Paul Michael Lützeler als bester Kenner von Leben und Werk Brochs gelten. 

Gleichsam als „summa“ seiner Arbeiten liest sich die nun vorgelegte Studie, die Broch in einen historischen und zugleich in einen aktuellen Kontext einrückt. Denn zum einen rekonstruiert der Verfasser ebenso anschaulich wie detailliert Brochs Schriften und Äußerungen zu den krisenhaften Verwerfungen der Moderne, zu Totalitarismus und Kapitalismus und stellt dabei die jeweiligen Bezüge zu den großen politisch-ökonomischen Theorien heraus: zu Max Weber und Joseph Schumpeter, Georg Simmel und Werner Sombart, zu Ludwig von Mises und Friedrich A. Hayeks Geldtheorien sowie zu den für die Politik des amerikanischen New Deal grundlegenden Schriften von John Maynard Keynes.

Zum anderen ist es Lützeler aber auch darum zu tun, die wegweisende Bedeutung Brochs für Positionen herauszuarbeiten, wie sie in der Gegenwart von Hans Joas und Giorgio Agamben, von Hans Küng und Mary Robinsohn, von Anthony Appiah oder von Michael Ignatieff vertreten werden. Hermann Brochs Beiträge zum gegenwärtig wieder brisanten Menschenrechts-Diskurs, zum Postulat der Anti-Versklavung und damit zu einem Welt-Ethos, das Freiheit und Gleichheit in der Balance hält, herauszuarbeiten, ihn als Vorläufer und zugleich als Visionär, als Zeitgenossen und als mögliche Autorität für die Gegenwart zu präsentieren, darauf zielen die gedanklich weitausgreifenden und doch stets präzise nachvollziehbaren Analysen in Lützelers Buch.

In vier großen Abschnitten kann man die Genese von Brochs Reflexionen über Menschenwürde und Demokratie verfolgen: Vom ersten Essay zu Fragen der politischen Ökonomie (Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem, 1919) über die 1937 verfasste Völkerbund-Resolution zum wirtschaftspolitischen Kapitel in City of Man (1940) spannt sich der Bogen schließlich zur 1939 konzipierten und mit drei Entwürfen bis 1948 dennoch Fragment gebliebenen Massenwahntheorie. Während Elias Canetti (dem komplizierten Verhältnis zwischen beiden Autoren widmet der Verfasser ein höchst instruktives eigenes Kapitel, das zudem mit unbekannten Briefen von Veza Canetti aufwarten kann) in Masse und Macht (1960) durchaus auch positive Massenphänomene diagnostiziert – zum Beispiel in Gestalt einer fröhlich feiernden „Festmasse“ – begründet Broch seine Kritik an der modernen Masse mit dem strukturellen „Dämmerzustand“, durch den sowohl das Individuum als auch die Masse an wirklicher Einsicht gehindert und in wahnhaftes Handeln getrieben werden können. Wie man eine dem Massenwahn verfallene Nation durch Erziehung bzw. „Bekehrung“ wieder für Demokratie und Menschenrechte gewinnen und wie man den Rückfall in massenpsychotische Zustände dauerhaft verhindern kann, solche Fragen haben Broch nicht nur in seinen Überlegungen zur Massenwahntheorie buchstäblich umgetrieben. 

Die theoretischen Orientierungen und Bezugnahmen zu erläutern, die für Brochs Texte zu Menschenrechtsfragen, insbesondere zur Begründung der Menschenwürde, aus dem Verbot der Versklavung maßgeblich wurden, ist das durchgehende Anliegen aller Kapitel. Für das essayistische Werk sind dies insbesondere die Vertreter des Personalismus Jacques Maritain, Martin Buber und Nikolai Berdjajew. In der Massenwahntheorie und auch in der Korrespondenz mit Hannah Arendt wird der Begriff eines „irdisch Absoluten“ zur definitorischen Bestimmung und ontologischen Begründung der Menschenwürde von zentraler Bedeutung. Mit Hans Joas interpretiert Lützeler sehr plausibel Brochs Plädoyer für dieses „irdisch Absolute“ im Horizont des Konflikts zwischen Personalismus und Chauvinismus. Wo sich ersterer der „Sakralisierung der Person“ verpflichtet sieht, da kämpfen die Vertreter des letzteren für die „Sakralisierung der Nation“. Als das radikal Böse begreift Broch die Versklavung, die ihre moderne Ausprägung im Konzentrationslager gefunden habe. Die Vergangenheit des Grauens erlaube nur eine Konsequenz, nämlich das radikale Verbot: „Der Mensch darf den Menschen nicht versklaven“.

Um die Präzisierung und Plausibilisierung literatur- und ideengeschichtlicher Kontexte geht es auch im Kapitel über das dichterische Werk. Das Drama Die Entsühnung (1932), Der Tod des Vergil (1945) sowie die Romane Die Verzauberung (1935) und Die Schuldlosen (1950) werden systematisch und gegen die Chronologie ihrer Entstehung aus ihren für die Menschenrechtsthematik relevanten Kontexten heraus präsentiert. Dabei steht Die Entsühnung für Brochs „kopernikanische Wende“, seine ästhetische Orientierung an Joyce, seine Abgrenzung von Piscator und Brecht und zugleich für einen Konnex aus Ethik und Ästhetik, die im neusachlichen Zeitgeist gerade nicht den ästhetisch-politischen Fortschritt, sondern ein Bekenntnis zur Versklavung diagnostiziert.

Eben diese Perspektive wird sich im Exil radikalisieren; die titelgebende „Sachlichkeit“ des dritten Teils der Schlafwandler-Trilogie (Huguneau oder die Sachlichkeit) liefert in Verbindung mit der Essayfolge Zerfall der Werte den literarisch-theoretischen Beleg für den Triumph des bedingungslos zweckrationalen Menschen, der sich nur dem eigenen Vorteil verpflichtet weiß und auch Verbrechen nicht scheut. Daraus – so entwickelt Lützeler ebenso textgenau wie kontextorientiert – erwächst im Exil und hier zumal in Der Tod des Vergil (1945) für Broch die literarisch gestaltete, aber philosophisch-anthropologisch grundierte Überzeugung: „Die Natur des Menschen ist seine Kultur“; Kultur ist für Broch nicht im Sinne Freuds Triebsublimierung, sondern sie ist der „Absolutheit des Todes entgegengesetzt“. Sie entspringt einer anthropologischen Überzeugung, die die Würde des Menschen als zeitlos begreift, also im „apriori Zeitlosen“ verankert. Damit werden die Konturen eines ästhetisch-politischen Denkens sichtbar, das den erfahrbaren und zumal durch Diktatur, Krieg und moderne Versklavungsformen repräsentierten Zerfall aller Werte und Prinzipien in die Perspektive einer neuen Ethik der Anti-Versklavung münden lässt.

Wie dies erzählerisch und essayistisch in Romanen wie Die Verzauberung (1935) und Die Schuldlosen (1950), konkretisiert wird; wie Broch in Anknüpfung an Theodor Haeckers Was ist der Mensch (1933) zum scharfen Kritiker eines in Faschismus und Stalinismus kulminierenden Systems der Versklavung des Menschen wurde; wie er in Auseinandersetzung mit christlichen Vorstellungen von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen dessen „Würde“ als ein „irdisch Absolutes“ zu begründen begann und auf diese Weise zum Vorläufer und Ideengeber der „human rights culture“ wurde: All diese komplexen und für gegenwärtige Debatten um die Universalität der Menschenrechte und die Partikularität nationalstaatlicher Souveränität höchst aufschlussreichen Kontexte lassen sich in der von Lützeler beschriebenen werk- und denkgeschichtlichen Entwicklung Brochs nachvollziehen und mit Gewinn für gegenwärtige Problemkonstellationen durchdenken.

Dies zeigt sich insbesondere im letzten Kapitel der Studie, das sich Brochs Briefwechseln im Exil (1938–1951) widmet und hier exemplarisch, aber doch durchaus repräsentativ die Korrespondenzen mit Hannah Arendt, Erich von Kahler und Abraham Sonne betrachtet. Seit sie 1946 Brochs im Jahr zuvor erschienenen Roman Der Tod des Vergil positiv rezensiert und als „große[n] Glücksfall“, ja nachgerade als „Bindeglied zwischen Proust und Kafka“ gelobt hatte, bestand zwischen Hannah Arendt und Hermann Broch ein intensiver freundschaftlicher Kontakt. Zwischen 1945 und 1949 hatten beide zunächst unabhängig voneinander über die Problematik der Menschenrechte gearbeitet; Broch, dem seit seiner Völkerbund-Resolution (1936/7) diese Thematik fast mehr am Herzen lag als die tatsächliche dichterische Produktion, hatte mit der Arbeit an der Massenwahntheorie eine ähnliche Thematik zu bearbeiten begonnen wie sie Hannah Arendt in ihrem Totalitarismus-Buch verfolgte. Aus gutem Grunde rekonstruiert der Verfasser daher die zwischen Arendt und Broch bestehenden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage nach der Fundierung der Menschenrechte und dem politischen Wirkungsradius der 1948 verkündeten Menschenrechts-Deklaration der UNO sehr genau und mit erkennbarer Sympathie für Brochs Position.

Hannah Arendt hatte bereits in einem 1946 verfassten und 1948 veröffentlichten Aufsatz entwickelt, was dann unter dem Titel Aporien der Menschenrechte Eingang in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft finden sollte, nämlich, dass sie im „Recht, Rechte zu haben“ den Kern und das Proprium aller Menschenrechtsvorstellungen begründet sah. Die Erfahrung der Staatenlosigkeit und der damit direkt verbundenen Rechtlosigkeit im Zeitalter nationalstaatlicher Orientierung der Weltgesellschaft ließ sie an der Realitätsmächtigkeit von Menschenrechtsdeklarationen zweifeln. Zumal – und hier treffen sich Broch und Arendt auf gleichsam unfreiwillige Weise – auch Broch große Anstrengungen in den Versuch setzte, die Humanitätspflicht, auf die sich die UNO-Menschenrechtserklärung bezog, und das nationale Souveränitätsprinzip, das sie weder aushebeln konnte noch wollte, in Einklang zu bringen.

Brochs Anstrengungen richteten sich ganz entschieden auf die Möglichkeit einer Vermittlung, auf die Forderung nach Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs, vor dem Versklavung und Menschenrechtsverletzungen eingeklagt und geahndet werden konnten; er argumentierte dabei mit „metapolitischen“ Vorstellungen, aufgrund derer er sein Ethos der Anti-Versklavung und sein Plädoyer für das „irdisch Absolute“ der Menschenwürde in einer unbedingt gültigen, innerweltlich durch die Staatengemeinschaft zu garantierenden und zu sanktionierenden Vereinbarung abgesichert sehen wollte. Dass Hannah Arendt diesen Optimismus philosophisch für vermessen und politisch für unrealistisch hielt, hat an ihrer Wertschätzung für Broch rein gar nichts geändert.

Im Gegenteil, auch sie wollte auf die nationalen Verfassungen in dem Sinne eingewirkt sehen, so dass Verstöße gegen die Menschenrechte, also Akte der Versklavung, verboten und geahndet würden. Wie Lützeler in diesem für gegenwärtige Menschenrechtsdebatten besonders brisanten Abschnitt zeigt, liefert der Disput zwischen Arendt und Broch die Grundlage für gegenwärtige Überlegungen demokratietheoretischer, anti-populistischer Provenienz. Arendt und Broch stimmten darin überein, dass einer demokratischen Ordnung, die diesen Namen wirklich verdient, unbedingt daran gelegen sein müsse, allen Versklavungsformen entschieden entgegenzutreten, solchen die dem „Wirtschafts-Totalitarismus“ entstammten ebenso wie den wahnhaft nationalistischen Verführungsangeboten von Demagogen und Populisten.

Titelbild

Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und die Menschenrechte. Anti-Versklavung als Ethos der Welt.
De Gruyter, Berlin 2021.
288 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783110738995

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