Geheim, verborgen, unsichtbar

Bae Suah konstruiert mit „Weiße Nacht“ eine temporeiche Lebens-Imagination im südkoreanischen Seoul

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es eine Geschichte? Oder mehrere? Wo liegt die Verbindung zwischen den handelnden Personen? Oder existieren diese vielleicht doch nur im Traum? Ist alles nur ein Spiel? Oder gar ein Gedankenexperiment? Solche und ähnliche Fragen dürften sich die Lesenden von Weiße Nacht auf den 159 Seiten dieses lebendigen Romans mehrfach stellen, während sie die Geschichte der jungen Protagonistin verfolgen. Verfasst wurde er bereits 2013 von der südkoreanischen Autorin Bae Suah und jetzt von Sebastian Bring ins Deutsche übersetzt. 

Die 28-jährige Ayami ist eigentlich Schauspielerin, verdient jedoch ihren spärlichen Lebensunterhalt als Assistentin einer Stiftung in einem Hörtheater. Es ist bzw., wie wir schnell lernen, war das einzige seiner Art in Seoul. Wir begleiten Ayami an ihrem letzten Arbeitstag, bevor das Theater für immer geschlossen wird. Darauf begibt sie sich auf eine Reise durch das nächtliche Seoul mit ihrem Theaterdirektor. Sie scheint mehrfach an bestimmte Stellen zurückzukehren. Doch dieser Schein trügt, da die Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und von unterschiedlichen Figuren durchlebt werden. 

Was zunächst wie eine Liebesgeschichte anmuten könnte, entwickelt sich in ein intensives Gespräch zweier Charaktere, das die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Realität bald überschreitet. Nach und nach verwischen diese zusehends, ohne dass die Erzählung surreal wirkt, egal wie weit sie sich auch von der vermeintlichen Wirklichkeit entfernt. Die Kunst dieses Romans liegt darin, dass die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Schönheit und Ekel, Güte und Herablassung, Glück und Unglück, Lärm und Ruhe, Krankheit und Gesundheit, ja sogar zwischen unaushaltbarer Hitze und plötzlicher Kälte, bis hin zu Leben und Tod, zerfließen. Bae Suah gestaltet eine unsichtbare Linie zwischen den Extremen, die fasziniert und im nächsten Moment Kopfschütteln verursacht. Das tut sie durch unerwartete Vergleiche, die Bezugnahme auf im ersten Moment nicht zu erahnende Zusammenhänge und die intensive Beschreibung verschiedener handelnder Personen, zwischen denen die Autorin ihre erzählerischen Fäden entspinnt.

Möglicherweise verfolgt die Autorin dabei vorrangig das Ziel, dass Nicht-Sichtbare offenzulegen. Deswegen stößt sie ihre Lesenden auf Dinge, die diese mit einer anderen Herangehensweise gar nicht wahrnehmen würden. Teilweise geht sie dabei mit großer Stärke vor, ohne echte Brutalität zu entwickeln. Dieser Grad, den die südkoreanische Autorin hierbei beschreitet, verdient Aufmerksamkeit und Respekt. Er gelingt ihr dann besonders gut, wenn die handelnden Figuren Dialoge führen, die zwar nicht besonders lang sind, aber von großer Intensität. 

So erklärt Ayami, dass Seoul einen verborgenen Namen habe, der „Geheimnis“ bedeute. Sie beschreibt das Geschehen in der Stadt und ihre Seele folgendermaßen:

Hier verschwindet alles so schnell, wie es entsteht. Das gilt auch für die Erinnerungen. Es kann passieren, dass man aus seinem Haus tritt, zehn Schritte geht, sich umdreht und das Haus, das immer dort stand, nicht mehr existiert. Man findet es nicht mehr. Das gleiche kann auch mit Menschen gesehen.

Drei Fragen durchziehen das Buch, die an verschiedenen Stellen wiederholt werden: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“. Natürlich vermag der Roman diese Fragestellungen nicht zu beantworten, aber die Autorin vermittelt uns eine Idee davon, dass wir nicht als Individuen wichtig sind, sondern es darüber hinaus etwas Unsichtbares gibt, das wir auch als moderne und gebildete Menschen kaum verstehen können. 

So schrecklich ein einzelnes Schicksal anmuten mag, steht es immer in einem Kontext und darf nie isoliert betrachtet werden, so wenig offensichtlich die Verbindungen zwischen den handelnden Personen auch sein mögen. So könnte eine Interpretation der Geschichte lauten.Und so einsam manche Menschen wirken, so verwoben sind sie dennoch mit anderen, auch wenn sie sich dagegen wehren möchten. Demzufolge verwischen die konventionellen Grenzen in diesem Roman, der von einer großen Kraft zeugt und von viel Tempo getragen wird.

Titelbild

Bae Suah: Weiße Nacht.
Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
159 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430170

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