Sara im Wunderland Bosnien

Lana Bastašićs Roman „Fang den Hasen“ ist ein Roadnovel ohne Bremse

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Debütroman von Lana Bastašić erschien 2018 unter dem Titel Uhvati zeca in Belgrad auf Serbisch und wurde 2019 in Sarajevo auf Bosnisch neu aufgelegt. Die in Kroatien geborene bosnische Autorin mit serbischen Eltern sieht sich selbst als ‚Mischprodukt‘ ohne eine Zuordnungsmöglichkeit. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurden ihrer Generation Erinnerungen, Mythen und Nationen zugewiesen, deren Bedeutung sie nicht kannte. Fang den Hasen setzt in der Gegenwart ein, um gedanklich in eine Zeit zu reisen, die auch heute noch das Zusammenleben und die Weiterentwicklung in der Region belastet. Kleinigkeiten, Begebenheiten und Namen wecken – hoffentlich nicht nur beim einheimischen Lesepublikum – Assoziationen, durch die der Text stärker als andere Romane zwischen den Zeilen lebt und seine eigene Roadnovel-Dynamik entwickelt.

Völlig überraschend ruft Lejla ihre ehemalige Schulfreundin Sara nach zwölf Jahren Funkstille an und nötigt sie fast, sie abzuholen, um mit ihr nach Wien zu ihrem Bruder Armin zu fahren. Nur lebt Sara längst glücklich als Übersetzerin in Dublin, während Lejla in Mostar geblieben ist. Sara erinnert sich an den weißen Hasen, den sie beide einst gemeinsam gekauft hatten und später auch begraben mussten. Gelingt es ihm, sie – wie Alice in Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker – ins Wunderland Bosnien zu locken? 

Lana Bastašićs Protagonistin verabschiedet sich wenig später von ihrem irischen Freund Michael, setzt sich erst ins Flugzeug nach Zagreb und dann in den Bus nach Mostar, wo eine wilde Autofahrt in die gemeinsame Vergangenheit durch das gespaltene Jugoslawien in Richtung Wien beginnt. Ihr ist von Anfang an bewusst: „Bosnien, Lejla. Das war kein zweiwöchiger Urlaub, aus dem man nach Hause kam und sich wieder zu Michael ins Bett legte. Das war wie mit Heroin wieder anfangen.“

Anfang der 1990er Jahre war Bosnien ein Vielvölkerstaat. Die muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten lebten bis zur Auflösung von Titos Jugoslawien friedlich neben- und miteinander. Als Slowenien, Kroatien und Bosnien den Austritt aus dem Staatsverband proklamierten, kam es zum Krieg. Während es in Sarajevo zur Belagerung und in den Gebieten mit uneindeutigen Bevölkerungsmehrheiten zu Massakern und ‚ethnischen Säuberungen‘ kam, wurden in Gebieten mit serbischer Bevölkerungsmehrheit die Minderheiten nicht weniger brutal vertrieben. Lejla und Sara, die nicht zufällig am Todestag Titos zur Welt kommt, erleben Banja Luka, die heutige Hauptstadt des serbischen Teils Bosniens, als Schulkinder. Dem Alter von fünf bis acht und der verzwickten Situation ist es geschuldet, dass die beiden Mädchen bis auf die kyrillischen Schmierereien und orthodoxen Kreuze, die „in Vorgärten, an Rückspiegeln, um den dicken Hals des Chemielehrers oder eintätowiert, wie auf den Muskeln von Mitars Vater“ plötzlich allgegenwärtig waren, nichts von den wirklichen Gräueltaten mitbekamen. 

Die Autorin vermeidet jegliche nationale, ethnische oder religiöse Identifikation. Das kollektive Weggucken und Schweigen lassen in den Augen der Mädchen einen diffusen Nebel zwischen Ausbruch – „Wir wussten, dass es begonnen hatte“ – und Ende – „der Frieden hörte auf, eine Neuigkeit zu sein. Es gab wieder regelmäßig Strom, und ich konnte länger aufbleiben“ – des Krieges entstehen. Dass Lejla und Armin Begić plötzlich Lela und Marko Berić heißen, ihre bosniakisch-muslimischen Namen in serbische verwandeln, wird als Ausdruck der Angst vor etwas Schrecklichem akzeptiert, aber nicht weiter hinterfragt.

Neben dem dunklen Schatten der Vergangenheit geht es um weibliche Identitäten in Bosnien, um Mädchen, die sich sehr offensiv mit dem ersten BH, Tampons, dem ersten Mal und Jungs – denen ja „unfairerweise“ Macht gegeben war – beschäftigen. Aber auch die Auswanderung junger Menschen aus dem politisch wie wirtschaftlich instabilen Nachkriegs-Bosnien wird thematisiert. Muss man Bosnien verlassen, wenn man ein selbstbestimmtes, erfolgreiches Leben führen will?

Lejla ist jedenfalls geblieben, schlägt sich mit Aushilfsjobs und touristischer Folklore durch und kann sich nichts in ihrem Leben aussuchen. Es klingt trotzdem kein Neid dabei mit, wenn sie Sara, die Tochter des serbischen Polizeikommandanten, eine „feine […], kleine […] Europäerin“ nennt, die nun in Dublin vegane Kanapees bei Musik von Bob Dylan oder Leonard Cohen isst, isländische Filme schaut und ihre Auswanderung wie folgt rechtfertigt: „Ich tauschte Bosnien für Geld ein, nur um nicht zurückkehren zu müssen.“ Sara, die nach dem Studium nach Irland ging, hat mit Bosnien abgeschlossen. Sie repräsentiert die zukunftsorientierten Menschen in Südosteuropa, deren einziger Weg aus Korruption, Nationalismus und Konservativismus der Gang ins Ausland zu sein scheint. Auch wenn Lejla nach dem Krieg Lela blieb und sich an ihrem sozialen Status nichts änderte, so ist sie die Stärkere der beiden. Sara hat sie immer angehimmelt und folgt ihr auch jetzt wieder. So entscheidet Lejla etwa, dass im Auto nostalgische jugoslawische Musik läuft, was der gebildeten Freundin natürlich missfällt, obwohl sie alle Texte kennt und mitsingen könnte. Denn nichts verbindet die Menschen in der Region mehr als ihre Lieder. 

Lejla nimmt sich – wie früher – alle Freiheiten. Um Sara zu zeigen, wie unvorbereitet sie in ungewöhnlichen Situationen reagiert, spielt sie die Tote oder verursacht, weil sie kurz vor der Grenze unbedingt noch pinkeln muss, einen Unfall und der Opel Astra landet im Maisfeld. Früher hat Lejla ihrer Freundin an einem Partisanendenkmal demonstriert, wie küssen geht, oder die Jungs nach der Matura zum Fluss gelockt und verführt. Sie hatte für Sara Mathe gemacht, dafür übernahm diese die Aufsätze auf Serbisch. Lejla hat immer eine Mission: einen Hasen kaufen, Kondome besorgen, die letzte Sitzreihe im Bus besetzen oder eben mit der Freundin quer durch Bosnien zum Bruder Armin nach Wien fahren. Er, der einst der kleinen Sara den Zopf geöffnet hatte, ohne zu ahnen, dass so etwas ein Mädchen Jahrzehnte lang bewegen kann, verschwand spurlos aus Banja Luka, als man ihn willkürlich für den Tod mehrerer serbischer Hunde verantwortlich machte. 

Die Schulzeit in Banja Luka, die unausgesprochenen Dinge der Kindheit, der Übergang zum Studium und der spätere Abschied lasten schwer auf Sara. Und während sie in der Stadt ihrer Jugend unsicher durch die für sie allgegenwärtige, unabänderliche Dunkelheit tappt, trifft sie auf Menschen, die „offensichtlich besser an das Dunkel gewöhnt“ sind. Mit ihrer „unansehnlichen“ Mutter, die sie aus der Ferne im Rollstuhl sitzen sieht, sucht sie nicht mehr das Gespräch. Das Elternhaus erscheint ihr nur noch als „Grabmal meines Zuhauses“. 

Bastašić hat ihr ausgereiftes Debüt auch formal interessant aufgebaut. Die Autorin stellt jedem ihrer zwölf Kapitel jeweils ein Rückblickkapitel, in eckigen Klammern beginnend und endend, nach. Mit fortschreitendem Text nähern sich Vergangenheit und Gegenwart einander an, bis sie nach dem letzten Kapitel verschmelzen. Es geht eben um einen Gefühlszustand, wie er war und immer noch ist, nicht um Orte oder bestimmte Gruppierungen.

Das Buch macht Platz für Veränderung und räumt mit der konservativen, ethnisch geprägten Sichtweise auf, die letztlich auch den blutigen Zerfall Jugoslawiens begünstigt hatte. Deshalb nabelt sich Sara früh von den Eltern ab, deren Werte für sie keine Rolle spielen. Die Entwicklung der beiden Hauptfiguren basiert auf Enttäuschungen. Lejla erlebt ihre beim Besuch einer verkommenen Kultstätte des Tito-Jugoslawiens und verwirft „eine Geschichte, an die sie geglaubt hatte.“ Für Sara ist Banja Luka der Ort, der sie nach den Kindheitserlebnissen magisch anzieht und frustriert bekennen lässt: „Ich wollte es so in Erinnerung behalten, wie es niemals war“. Der jugoslawischen Nostalgie, die der jüngeren Generation nichts mehr bedeutet, gibt die Autorin keinen Raum.  

Durch ihre Protagonistinnen zeichnet Bastašić gegensätzliche Wege aus den Spannungen, die der Krieg hervorgerufen und hinterlassen hat. Der plötzlich durch die Umstände zur Zielscheibe des nationalistischen Hasses gewordenen und in Bosnien gebliebenen Muslima stellt sie die privilegierte, serbische, ausgewanderte Übersetzerin zur Seite. Der Verzicht auf eine Pointe macht die Geschichte glaubhaft, es gibt keine Antworten, sondern neue Fragen. Das Ziel ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, in Bewegung zu bleiben und damit Licht in die Dunkelheit zu bringen.

Der Roman ist eine Hoffnung für alle, die an die Zukunft denken und für sinnvolle Veränderungen offen sind. Fang den Hasen ist mutig geschrieben, ohne anzuklagen und findet genau deshalb ein geteiltes Echo in der Region, in der schon immer verschiedene, oft auch widersprüchliche Deutungen der Wirklichkeit und der Fremde für Streit bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen gesorgt haben. Wer sich, wie Bastašić, engagiert, emanzipiert und aus eigener Betroffenheit für die Selbstermächtigung und Entscheidungsfreiheit aller einsetzt, dessen literarische Stimme wird auch in der Zukunft gehört werden. 

Titelbild

Lana Bastašić: Fang den Hasen. Roman.
Aus dem Serbischen übersetzt von Rebekka Zeinzinger.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970326

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