Menschen sind wankelmütig

Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro macht eine künstliche Freundin zur Erzählerin seines aktuellen Romans „Klara und die Sonne“

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Zuneigung auf den ersten Blick. Als die 13-jährige Josie Klara im Fenster eines kleinen Ladens entdeckt, der künstliche Freunde (KF) als Begleiter für einsame Kinder anbietet, steht fest: Diese muss es sein, auch wenn Klara, wie sich herausstellt, einer schon veralteten Robotergeneration angehört und inzwischen bereits Exemplare auf dem Markt sind, die eine ganze Menge mehr können als sie. Und auch Klara fasst sofort Vertrauen zu dem Kind, das so sehr darauf beharrt, sie und nur sie als Beistand auf dem schwierigen Weg ins Erwachsenenleben an der Seite zu haben.

Kazuo Ishiguro, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2017, siedelt mit Klara und die Sonne nicht zum ersten Mal einen Roman in der (nahen) Zukunft an. Bereits sein 2005 erschienenes Buch Never Let Me Go (dt. Alles, was wir geben mussten) spielte dort und war literarisch im Grenzbereich zwischen Science-Fiction und aktueller Gesellschaftskritik verortet. In seinem neuen Roman nun wirft er die Frage auf, was den Menschen in der Welt, die ihn umgibt, so besonders macht und die herausgehobene Stellung begründet, auf die er sich so viel einbildet. Dass er eine auf Beobachtung, Empfindsamkeit und Empathie getrimmte, vom Äußeren her dem Menschen ähnliche Maschine dazu benutzt, sich ein Bild von unserer Spezies aus der Distanz zu machen, erweist sich dabei als geschickter Griff.

Vom Schaufenster des Lädchens, in dem Klara unter ihresgleichen ist, getrennt vom Leben der Menschen draußen und trotzdem voller Hoffnung, eines Tages für ein Kind gekauft zu werden, führt ihr Weg im zweiten Romanteil endlich zu den Arthurs. Josie und ihre Mutter Chrissie – eine Schwester, über die nicht gern gesprochen wird, ist früh verstorben, der Vater, Paul, taucht nur noch besuchsweise auf, er ist inzwischen gemeinsam mit anderen Aussteigern in eine Art Kommune gezogen – leben gemeinsam mit ihrer Haushälterin Melania in einem einsam stehenden Haus auf dem Land. Gesellschaftliche Kontakte scheint man nur wenige zu haben. Andere Kinder trifft Josie lediglich aus Anlass sogenannter Interaktionsmeetings, Treffen, bei denen die Fähigkeit der einsam Aufwachsenden, mit anderen zu kooperieren, geschult werden soll.

Nur mit dem etwa gleichaltrigen Nachbarssohn Rick pflegt Josie eine intensive, wenn auch nicht immer konfliktfreie Beziehung. Doch der technisch hochbegabte Sohn einer ehemaligen Schauspielerin gehört nicht zu der gesellschaftlichen Schicht, zu der die gutsituierten Arthurs sich zählen dürfen. Und an ihm wurde auch nicht jener operative Eingriff vorgenommen, mit dessen Hilfe diejenigen, die es sich leisten können, aus ihren Kindern intelligentere Wesen machen lassen. Rick ist ein „Ungehobener“, wie die offizielle Terminologie für diese unterprivilegierte Kaste lautet, und kommt im Leben deshalb nur für eine weniger bedeutende Karriere als seine Freundin in Frage.

Jenes „Gehobenwerden“ besitzt allerdings auch negative Seiten. Josies Schwester Sal hat es offensichtlich in jungen Jahren krank gemacht und letztendlich getötet. Und auch bei Josie ist, wie Klara schnell feststellen kann, nicht alles in Ordnung. Regelmäßig hat das pubertierende Mädchen mit Ermattungs- und Schwächeanfällen zu kämpfen. Ein Arzt ist ständiger Gast im Landhaus der Arthurs. Helfen aber kann auch er nicht wirklich. Und so bleibt es letzten Endes Klara überlassen, mithilfe der Sonne, aus der sie auch ihre eigene Energie bezieht, Josie zu heilen.

Auch Klara profitiert im Übrigen von dem ständigen Zusammensein mit Josie und den zwei anderen im Haushalt der Arthurs lebenden Personen. Selbst zu Rick, der dem Robotermädchen anfangs distanziert und voller Misstrauen gegenübersteht, baut sie mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis auf, vermittelt zwischen ihm und Josie, wenn sich die beiden wieder einmal zerstritten haben, und weiß ihn an ihrer Seite bei dem letztendlich auch dank seiner Hilfe gelingenden Versuch, Josie zu heilen.

Doch neben den vier Personen, mit denen sie mehr oder weniger regelmäßig zusammentrifft, begegnen der künstlichen Freundin Josies auch Menschen, bei denen Klara auf Eigenschaften stößt, die sie vorsichtig werden lassen gegenüber einer Spezies, die Menschlichkeit und Nächstenliebe auf ihren Schild gehoben hat und beständig predigt, während sie häufig nur Eigennutz lebt und Andersgeartete mit Verachtung straft. Dazu zählen jene „gehobenen“ Mädchen und Jungen, die auf ihren Interaktionsmeetings streng unter sich bleiben wollen und die immer neben Josie stehende Klara behandeln wie einen Gegenstand, mit dem man tun kann, was man will, was eine mutwillige Zerstörung nicht ausschließt. Und auch eine Gestalt, die daherkommt wie einem Text des deutschen Spätromantikers E.T.A. Hoffmann entsprungen, gehört dazu: der sich selbst als Künstler bezeichnende Henry Capaldi, der unter dem Vorwand, ein Gemälde von Josie anzufertigen, damit beschäftigt ist, ein Modell des kranken Mädchens zu entwickeln, in das Klara, sollte Josie nicht überleben, nur zu schlüpfen braucht, um für die Mutter die perfekte Kopie der Tochter darzustellen und damit deren Schmerz zu mildern.

Ging es Kazuo Ishiguro in dem Roman Alles, was wir geben mussten anhand des Themas „Klonen“ um ethische Grundfragen der Gegenwart, so sind inzwischen aus den menschlichen Klonen, die dort in kleinen, geschlossenen Gemeinschaften leben mussten, um mit ihren Organen in der Not einzuspringen für ihre Ebenbilder, KFs, künstliche Freundinnen und Freunde, geworden. Die Fragen freilich, die von Klara und ihresgleichen aufgeworfen werden, sind dieselben geblieben. Auch Ishiguros Roboterwesen nehmen Außenseiterpositionen ein. Ihr Blick auf die menschliche Gemeinschaft ist aber genauso scharf wie der ihrer Vorgänger, wenn auch urteilsfrei. Und in diesem Blick spiegelt sich eine Welt, in der sie der Autor letzten Endes als die „besseren Menschen“ agieren lässt, weil sie den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen ohne Arg begegnen und nur deren Bestes wollen. Am Ende freilich landen sie, deren Hilfe immer weniger benötigt wird, auf dem Sperrmüll unter anderen nutzlos gewordenen Maschinen, während jene, denen sie beim Erwachsenwerden treu zur Seite standen, ihren Weg allein weitergehen müssen.  

Titelbild

Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne. Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Blessing Verlag, München 2021.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676931

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