Eine Frau, die alles erlebt hat
Andreas Pflügers monströser Roman „Ritchie Girl“ über die unmittelbare Nachkriegszeit
Von Martin Gaiser
Der US-Militärgeheimdienst hat in den Jahren 1942 bis 1945 in Maryland das Ausbildungslager Camp Ritchie betrieben, wo Menschen zu Verhörspezialisten und Nachrichtenoffizieren ausgebildet wurden. Unter diesen Personen waren unter anderem deutsche Emigranten, namentlich beispielsweise Stefan Heym und Klaus Mann. In Anlehnung an die sogenannten ‚Ritchie Boys‘ hat nun Andreas Pflüger seinen Roman um die junge Deutsch-Amerikanerin Paula Bloom Ritchie Girl betitelt. Denn diese Paula Bloom, deren Mutter früh verstorben ist und deren Vater Douglas Bloom mit ihr im heutigen Berliner Bezirk Charlottenberg-Wilmersdorf am Hundekehelsee lebte, ließ sich nach ihrer Übersiedelung in die USA in Camp Ritchie ebenfalls ausbilden.
Aber eins nach dem Anderen. Als Paula im Frühjahr 1937 erfährt, wie ihre beste Freundin Judith seit kurzer Zeit behandelt wird, sie nichts dagegen tun kann und auch ihre Bitten an den Vater, Judith und deren Familie zu helfen, erfolglos bleiben, fasst sie den Entschluss, in die USA zu gehen. Dort, in New York, studiert sie an der Columbia University Amerikanische Geschichte, wird wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann, nach der für sie unfassbaren Zeitungsmeldung über Massenvernichtungen in Europa, 1943 Teil des Women’s Army Corps. Im Frühjahr 1945 kommt sie mit dem Schiff in Italien an, der Krieg ist fast zu Ende. Sie wird dem CIC, dem Geheimdienst der US-Army zugeteilt, um fortan Männer zu verhören, die über nachrichtendienstlich wichtige Informationen verfügen. Der Begriff des Kalten Krieges fällt bereits, die Auseinandersetzungen der großen Blöcke und Systeme sind längst im Gange und die Amerikaner möchten möglichst schnell die entscheidenden Figuren für sich gewinnen, um den Einfluss des Kommunismus einzudämmen.
Hier tritt Allen Dulles auf, ein Mann, den Paula Bloom bereits als junge Frau in Berlin kennengelernt hat. Lange Zeit wusste sie nicht – oder wollte nicht wissen oder wahrhaben –, was ihr Vater gemacht hat. Douglas Bloom war wohl eine Art Lobbyist, hatte glänzende Kontakte zu IG Farben und der mit IG Farben verbundenen Standard Oil Company. In seinem Haus im Grunewald gaben sich die wichtigen Personen der Zeit die Klinke in die Hand, Politiker, Künstler, Wirtschaftsbosse. Paula, eine sehr schöne und äußerst intelligente junge Frau, hat viele dieser Gäste getroffen, was ihr Jahre später zugute kommt. Einer dieser Kontakte ihres Vaters war besagter Allen Dulles, der später Leiter der CIA wurde, dessen jüngerer Bruder 1953 US-Außenminister. Ihn wird Paula im Verlauf des Buches wiedersehen, freilich ohne ihm den Respekt aus Kindertagen zu erweisen: „Du hättest ein wahrlich großer Mann werden können, Al. Doch aus dir ist bloß ein Lump ohne Gewissen, ohne Ehre und ohne Vaterland geworden.“
Das wirft sie Dulles an den Kopf, als sie sich wiedersehen und Paula ihm von Orson Welles‘ Citizen Kane erzählt und wie sie ihn, Dulles, in diesem Kontext sieht. Überhaupt ist Ritchie Girl ein Who is who der Köpfe jener Zeit; neben Künstlern wie Paul Klee, Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner und vielen weiteren, den bereits genannten Heym und Mann, bringt Andreas Pflüger in seinem vor lauter Informationen schier berstenden Romankoloss Graham Greene, Gert Fröbe, Leni Riefenstahl, Glenn Miller, Charlie Chaplin, Joe Louis und Max Schmeling, Ilja Ehrenburg, Dostojewski und natürlich Shakespeare unter, es werden die noch jungen und unbekannten Robert Mitchum und Henry Kissinger erwähnt, Vergleiche mit W.C. Fields angestrengt, es nimmt kein Ende.
Doch weiter in der Handlung. Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien, wo sie tatsächlich Mussolinis Leiche sieht und bei einem Anschlag schwer verletzt wird, kommt sie nach ihrer Genesung nach Camp King in Oberursel bei Frankfurt, wo sie einen Freund und Gefährten aus Camp Ritchie wiedertrifft. Mit diesem Sam, der wie sie aus Berlin stammt und der in Ritchie in sie verliebt war, arbeitet sie fortan zusammen. Ihre Hauptaufgabe ist es, herauszufinden, ob ein gewisser Johann Kupfer, österreichischer Jude, tatsächlich der legendäre Spion ‚Sieben‘ ist. Dieser hatte den Nationalsozialisten viele hilfreiche Informationen zugespielt, weswegen er nun hofft – in Nürnberg läuft längst der Prozess – seine Dienste den Amerikanern anbieten zu können.
Die Gespräche mit Kupfer sind so etwas wie das pochende Zentrum dieses Kraftwerks von einem Roman. Ritchie Girl entwickelt eine Energie beim Leser, weckt Neugier und Recherchewillen, gleichzeitig nimmt es ihm auch Kraft, weil dieses mit Fakten, Daten, Namen, Verbindungen, Verstrickungen vollgepackte Buch die völlige Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Paula Bloom ist, im Gegensatz zu Andreas Pflügers vorheriger Romanheldin Jenny Aaron, eine Kunstfigur ohne besondere Vitalität. Vielmehr ist sie Funktions- und Informationsträgerin ihres Schöpfers, der ihr alle Kenntnisse auf den Leib schreibt; sie erkennt Zitate, hat Verhörprotokolle im Kopf, kann mühelos Verbindungen herstellen, egal, ob es sich um Politik, Kultur, Wirtschaft oder andere Themen handelt.
Ritchie Girl ist ein, wie Bodo von Hechelhammer, Chefhistoriker des BND, in seinem Nachwort dem Autor attestiert, „blendend recherchierter Roman“. Das ist er ganz sicher. Und dieses Buch zeigt anhand seiner immer wieder hadernden Hauptfigur, wie bitter es schon unmittelbar nach Kriegsende sein musste, zu erleben, dass gewichtige Kreise in ihrem Streben nach Macht und Deutungshoheit der neuen Verhältnisse wenig bis keine Skrupel hatten, mit hochrangigen Nazis zusammenzuarbeiten. Schließlich gibt es dann doch noch ein wichtiges Motiv in Ritchie Girl, das Paula Bloom unvorsichtig werden lässt und Kräfte bei ihr freisetzt: die Liebe. Bei ihrem Weggang aus Deutschland hat sie auch Georg Melzer zurückgelassen, einen jungen Mann, den sie sehr geliebt hat. In ihren Verhören und Gesprächen taucht der Name dieses Mannes immer wieder auf und Paula schöpft gegen jede Vernunft Hoffnung, er könne noch am Leben sein und sie werde ihn wiedersehen.
Möglicherweise stand Andreas Pflüger die Fülle seines Materials insofern im Weg, dass er die von ihm sonst gewohnte Meisterschaft des packenden Erzählens opfern musste. Kleinere stilistische oder grammatikalische Schwächen sind Gemäkel, das ein solches Buch nicht zum Wanken bringen kann.
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