„Ork City“ vs. „Deutscher Buchpreis“

Der Deutsche Buchpreis, seziert

Von Sören HeimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sören Heim

Ork City ist ein relativ einfacher Fantasyroman mit einem etwas überdurchschnittlich interessanten Setting. Ein „Fantasy Noir“ Krimi, der ein typisches Fantasy-Setting mit einem düsteren Großstadtkrimi verknüpft. Gewiss kein Meisterwerk, gewiss keine „höhere Literatur“. Aber ich kann zumindest sagen: Nach den ersten 10 Seiten wollte ich bis zum Ende des Buches lesen und ich habe mich trotz mehrerer Mit-den-Augen-roll-Momenten gut unterhalten gefühlt.

In diesem Jahr habe ich 15 Romane von der Longlist des Deutschen Buchpreises gelesen und dabei musste ich öfter an Ork City denken. Denn es waren vielleicht vier Kandidat*innen dabei, an denen ich ebenso viel Spaß hatte wie an einem Text, den Preise für „ernste“ Literatur wahrscheinlich nicht mal akzeptieren würden, um sich den Hintern damit abzuwischen. Jetzt sagen Sie bitte nicht, Preise hätten keine Hintern. Kennen Sie Der Butt von Günter Grass nicht?

 

Gute Bücher sollen doch nicht unterhalten!

Einwand: „Aber richtig gute Bücher sollen doch keinen Spaß machen! Die sollen aufrütteln, verstören, das Bewusstsein erweitern. Vielleicht sogar abschrecken. Ich meine, wenn man wie der Buchpreiskandidat Georges-Arthur Goldschmidt über NS und Shoah schreibt, dann darf das doch keinen Spaß machen!“

Zugestanden. Aber wie eine Biografie aus der Wikipedia sollte sich das Ganze vielleicht auch nicht lesen. „Spaß haben“ oder „unterhalten werden“, das sind viel zu beschränkte Begriffe für das, was ein guter Roman mit Lesenden macht. Aber: Selbst die besten Romane zu den schrecklichsten Themen sollten etwas haben, das verhindert, dass man sie weglegen möchte, während sie ihre tiefere Wirkung tun. Oder: Wenn man sie weglegt, dann nur, weil man eigentlich weiterlesen möchte, aber nicht mehr kann, physisch und psychisch überfordert ist. Lang kann man sie dann doch nicht beiseitelegen (Imre Kerteszs Romane etwa wären ein zurecht kanonisches Gegenbeispiel zu Goldschmidts Longlist-Titel).
Ork City hat mit einem spannungs- und vor allem temporeich ausgeführten Plot immerhin das für sich. Vielen Deutscher-Buchpreis-Kandidaten in diesem Jahr fehlt das komplett. Hätte ich keine Rezensionen schreiben wollen, hätte ich die meisten Titel nicht zu Ende gelesen.

Ja, es gibt literarische Meisterwerke, die sind sprachlich so komplex, da muss man sich durchaus durchkämpfen und sich womöglich für die erste Lektüre sogar Hilfe aus einem Guide holen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass, was sich anstrengend liest, deshalb schon ein Meisterwerk ist. Und die meisten „schwierigen“ Romane, die von Dauer sind, also nicht allein durch Pflichtlektüren an Unis lebendig bleiben, haben eben etwas, das sich festsetzt, das von Anfang an zeigt: Diese Arbeit wird sich lohnen. Der beklemmende Surrealismus Kafkas. Die musikalischen Sätze Joyces und Woolfes. Der groteske Witz Pynchons. Bei vielen Buchpreiskandidaten, und nicht nur in diesem Jahr, fehlte das. Ich habe seit 2017 jetzt meinen vierten Buchpreis-Marathon hinter mir, und es ist immer wieder zum Verzweifeln. Aber bleiben wir bei den aktuellen Kandidat*innen.

Christian Kracht hat eine Hommage an Faserland verfasst, in der die bedeutendste Stilmittel des Debüts, die schwachen Marker fingierter Mündlichkeit, „Ja“ und „Also“ ein Comeback feiern, und der das Feuilleton vor allem interessierte, weil er mit dem Autobiographischen spielte.

Heinz Strunk hat einen Houellebecq-Verschnitt abgeliefert, der an die besseren  Houellebecqs, ach, an die besseren Imitatoren, nicht annähernd herankommt. Mittelalter weißer Mann hasst Welt, hasst Frauen, findet Wunderfrau, verliert Wunderfrau. Gähn. Doch das Schockierendste an dem Text ist, dass das bei Weitem nicht der schwächste Buchpreis-Roman ist. So platt das Szenario, so erbärmlich die Hauptfigur – das Ganze erweckt doch zumindest so viel Interesse, dass die Chance recht gut steht, dass man, einmal angefangen, bis zum Ende liest. Andere Texte… Nun ja.

 

Die gezwungen Künstlichen

Zu den Elefanten von Peter Karoshi etwa ist einer von mehreren Texten, die auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Künstlichkeit straucheln. Inhaltlich banal – Das millionste „Vater und Sohn finden reisend zueinander“-Buch, doch in einer kunstwollenden Sprache, die teils Selbstparodie sein könnte.

»Brauchst du das für die Arbeit?« »Nein, das ist ja völlig veraltet. Ich lese nur hin und wieder so hinein.« »Mich kannst du ja mit sowas jagen, die Geschichte der Kindheit. Das wollen wir besser alles gut ruhen lassen.« »Sagt die abgeklärte Biologin.« Aber darauf wollte sie gar nicht eingehen. »Gerade weil wir Eltern sind, ist eine Geschichte des Kindes irgendwie auch nicht mehr so relevant? So irgendwie um die Ecke gedacht«, versuchte ich ihren Gedanken weiterzuführen. »Ja, natürlich«, sagte sie versonnen, »die Kindheit geht zu Ende, neue Abschnitte beginnen.«

»Ja«, sagte ich also leichthin, »beruhigend, das Kind so weit zu sehen.« Und nach einer Pause: »Eine erste Grenze wurde jedenfalls überschritten. Nach all dem Rennen um und für das Kind, auch einmal wieder zu sich selbst finden. Es war ja streckenweise so, als würde man einem Plan folgen, der tief in einem abgespeichert ist, ein Bauplan des Lebens, der zum Selbstläufer wird, zum Schutz der Kinder in diesen Anfangszeiten.« »Ja, von mir aus, eine Grenze«, unterbrach sie mich, »das ist doch immer so, es sind vielleicht noch zwanzig Jahre, vielleicht auch nur zehn, wer weiß das schon jetzt, und dann sind wir Geschichte.«

Ernsthaft. Wer unterhält sich da? Zwei glitchende Goethe-Bots, die mit dem Nietzsche-Virus ringen? Faustregel: In poetisch sein wollenden Texten ist es meist sehr fragwürdig, wenn Erzähler und Figuren alle im gleichen Duktus sprechen.

Mein Lieblingstier heißt Winter von Ferdinand Schmalz ist sprachlich noch zwanghafter. Obwohl die Geschichte dazu kaum Anlass gibt, klingt es, als habe der Autor Grassens Geist beschworen. Ich bin ja ganz für die sprachlich dichten, die komplexen, die poetischen Texte. Aber das hier ist Sprachgebrauch, der aktiv das Lesen einer einfachen Geschichte erschwert:

Und während sich nun auch der Harald aus dem Schlamm wieder hat aufgerappelt, meint sie, die Schimmelteufel, sie werde, da ihre Anwesenheit hier hoffentlich nun nicht vonnöten mehr, weil doch die beiden selbst zurecht sich fänden, werde sie erst mal zurück in ihr Büro.

Felicitas Hoppes Die Nibelungen – Ein deutscher Stummfilm kommentiert in sperrigen Sätzen eine Aufführung der Nibelungen. Wirklich, das ist das ganze Buch. Ein Wormser Nibelungenstück und kritische Kommentare und In-Kontext-Setzungen dazu. Referate des wissenschaftlichen Standes, fiktive Schauspieler*innen-Interviews, politische Meinung.

 

Der Handbremsen-Modernismus

Immerhin, anders als in vergangenen Jahren stellen solche Werke sicher, dass der Buchpreis 2021 weniger Texte dieses in der Vergangenheit virulenten Modernismus mit Handbremse versammelt. Des deutschen Einheitsstils, der, fürchte ich, aus den großen Schreibschulen in die Welt geschleudert wird. Sie wissen schon: Diese Kurzsatz-Prosa. Dieses im Stakkato Beschreibende. Mit den bildlichen Adjektiven. Die mal gelb, mal grün schillern. Und dann darf man sich alle paar Absätze parataktisch zu einem hohen Gedanken aufschwingen, wie dem, dass, wenn in unendlicher Zeit unendlich viele Menschen sowieso alle nur denkbaren Geschichten geschrieben haben werden, es letztlich egal ist, ob und welches Buch man schreibt. Und dann wieder: Kurze Sätze. Rhetorische Fragen. Und je nach Autorenhabitus vielleicht noch ein paar Kraftausdrücke. Eine Moderne, die sich einst zwingend am Material entwickelter Techniken bedient, als seien es Zutaten aus dem Ikea-Gewürzregal. Bei denen man gar nicht mehr fragen muss, wie ob sie überhaupt zum Erzählten passen.

 

Die „Recherche-Romane“

Mindestens drei Romane derweil sind, was ich „Recherche-Romane“ nennen würde, eine in der zeitgenössischen Literatur verbreitete Distanz-Simulation, die zum Tragen kommt, wenn aus welchen Gründen auch immer ein Thema nicht einfach unmittelbar als Erzählung beackert werden soll. Vielleicht ist es „schwer“, darüber zu schreiben, vielleicht will man nicht behaupten, dass man die Perspektive dessen einnehmen kann, worüber erzählt wird. Aber ein Roman muss trotzdem geschrieben werden, also schafft man sich einen Protagonisten oder eine Protagonistin, meist selbst Journalist*in oder Schriftsteller*in, die zu diesem Thema recherchiert und/oder sich seine/ihre Gedanken macht. Der Roman ist quasi der Bericht über die Recherche plus die Gedanken. Ich mag die Tendenz zu dieser Romanform nicht besonders. Gewiss kann es kunstvoll sein und ein Werk überhaupt erst auf eine besondere Höhe heben, wenn die Erzählung durch einen oder mehrere Blicke von außen gebrochen wird. Aber im Recherche-Roman ist das meist bloß noch Habitus geworden. Der Standard-Move, wenn es aus irgendeinem Grund schwierig sein könnte, direkt aus einer Figur oder sogar einem literarischen Kosmos heraus zu erzählen. Schreibe ich halt so einen Recherche-Roman. Wenn ich auf Preise spekuliere, kann es hilfreich sein, thematisch noch was mit deutscher Vergangenheitsbewältigung beizumischen.

Überhaupt: Bewältigungsromane. Von 18 Longlist-Titeln dreht sich wieder eine gute Hand voll um Figuren, die hauptsächlich oder teils mit dem NS-Erbe ringen. Nicht etwa mit dem überall lauernden neuen Faschismus. Nein, mit dem was „damals“ passiert ist. Und das dann auch oft noch eher in so einer persönlichen, kaum politischen Weise… So wichtig das Thema ist. Es hat etwas von Nabelschau. Denn es handelt sich ja auch weder inhaltlich noch formal um bahnbrechend neue Blicke aufs Thema.

– „Schatz, das Feuilleton erwartet von mir einen deutschen Gegenwartsroman.“
– „Ach, mach doch einfach was zum NS. Das geht immer!“

Nein, ich habe nichts gegen Texte, die sich auf der Höhe des Gegenstands intellektuell und ästhetisch mit dem NS auseinandersetzen. Im Gegenteil. Was mich stört ist, wie das Thema zu einer deutschen „Fingerübung in Tiefe verleihen“ wird, während die Frage, ob und wie man über das kollektive Morden von NS und Shoah überhaupt schreiben kann, anscheinend als gelöst betrachtet wird: Kann man, und etwa so, wie man auch vom Besuch bei Verwandten berichtet.

 

Die gelungeneren Texte

Zugegeben, der Preis hat auch dieses Jahr wieder ein paar Treffer gelandet. Dilek Güngörs Vater und Ich ist eine gelungene dichte Erinnerung, die die Distanz-Konstruktion des „Recherche-Romans“ erzählerisch sehr produktiv einsetzt. Yulia Marfutovas Der Himmel vor hundert Jahren schafft einen sprachlich und formal überzeugenden Dorfkosmos, und dürfte einer der wenigen Texte dieses Jahrgangs sein, den man auch in 20 bis 50 Jahren noch lesen möchte, wenn die Debatten, die einige der aktuelleren Romane offenkundig befeuert haben, lang verklungen sind – und Kunst zielt doch letztlich auf Dauer. (Allerdings – möglich dass wir dann alle in kleinen Schaluppen über die Weltmeere schippern und gezwungen sind, Waterworld als das einzige wahrhaftige Kunstwerk unserer Zeit zu feiern. Vor einer solchen Zukunft sollte man sich wirklich fürchten).

Drei Kameradinnen von Shida Bazyar mag manche Leser*in provozieren, doch die Erzählperspektive ist gut konstruiert, und wenn auch der Twist zum Schluss etwas überrumpelt, handelt es sich um ein rundes Kunstwerk. Und Sasha Marianna Salzmann zuletzt verbindet mit Im Menschen muss alles herrlich sein tatsächlich eine spannende Geschichte mit einem breiten und tiefen Blick auf Perestroika und Wende in der Ukraine und Deutschland. Auch diesem relativ wenig gehypten Titel ist Langlebigkeit zu wünschen.

Aber sollte ein Preis, der immerhin mit dem Anspruch antritt, der wichtigste Preis für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu sein, auf der Longlist nicht eigentlich locker 20 Werke versammeln, die in allen Belangen besser sind als Ork City?

 

Die Shortlist

Während ich dies noch schreibe, wird die Shortlist bekanntgegeben. Und als ginge es in diesem Jahr vor allem darum, Literatrliebhaber*innen so richtig fest in die Magengrube zu hauen, fehlen gleich vier der eindeutig stärksten Romane der Longlist. Die Dominanz auch sonst dominanter Belletristik-Verlage ist derweil geradezu erdrückend.

„Vier der eindeutig besten Romane? Das lässt sich so doch gar nicht sagen!“, höre ich die Einwände schon wieder. „Man kann doch nicht einfach so tun, als gäbe es objektiv bessere und schlechtere Kunst. Das ist doch so altmodisch.“ Ich denke, man kann diese Perspektive recht gut zurückweisen, auch im Alltagsgespräch, zumindest, wenn man nicht die Sinn und Zwecklosigkeit eines jeden Gespräches über Kunst behaupten möchte. Und dann könnte man es ja auch gleich lassen.

Doch lassen wir das. Denn hier ist der Einwand definitiv fehl am Platz. So ein Buchpreis versucht ja nichts anderes, als den besten Roman eines bestimmten Zeitraums zu küren. Der muss sich die Kritik schon gefallen lassen. Natürlich: Auch in den Versuch einer möglichst objektiven Bewertung fließt Subjektives ein. Aber dass gleich Der Himmel vor hundert Jahren, Im Menschen muss alles herrlich sein, Vater und Ich und Drei Kameradinnen herausfallen – das wirkt beinahe wie ein konzentrierter Schlag gegen die wohlkomponierteren Werke der Longlist.

Zugegeben, zwei der Shortlist-Titel habe ich aus Zeit- und Frustgründen nicht lesen können. Möglich, dass sich hier noch ein Meisterwerk versteckt. Ich hoffe es. Aber dann blieben ja noch immer vier freie Plätze.

Eine kürzere Version des Textes erschien bereits online bei „Die Kolumnisten“.