Vom Risiko, als Schwarze weiß zu sein

Nella Larsen gewährt in ihrem Roman „Seitenwechsel“ einen unerwarteten Blick auf das Thema Hautfarbe

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es Zufall, wenn gleich mehrere afroamerikanische Schriftsteller*innen aus der Ära der legendären Harlem-Renaissance mit Neuausgaben auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen? Zu erinnern ist an Die Hochzeit von Dorothy West; heute ist es Nella Larsons Roman Passing von 1929 und demnächst gibt Wallace Thurmans im gleichen Jahr erschienener Roman The Blacker the Berry Anlass zu einer Besprechung. Und auch Ann Petry mit Country Place wäre hier zu nennen.

Gleich ob Zufall oder nicht, vielleicht hat es am Ende mit der Bewegung „Black Lives Matter“ unserer Tage zu tun – zumindest erscheint es mir mit Blick auf die Wirkung hinein in unsere weiß dominierte Gesellschaft nicht ganz abwegig. Denn mit einem klareren Bewusstsein nicht nur für den Alltagsrassismus mag auch eine intensivere Wahrnehmung für die künstlerischen Potentiale von Schwarzen und Menschen of Color einhergehen. Eine größere Achtsamkeit und Wertschätzung können ja nur wünschenswert sein, ohne freilich in eine gönnerhafte Haltung zu verfallen, die den Rassismus nur camoufliert und so durch die Hintertür wieder ins Spiel brächte. Natürlich gab und gibt es schon immer die Erfolgreichen im Kulturbetrieb, um mal eben James Baldwin, Toni Morrison oder Zadie Smith als Beispiele für den Bereich der Literatur zu nennen. Am Ende macht es die Breite des Spektrums, denn unser menschlicher Reichtum liegt in der kulturellen Vielstimmigkeit.

Was die Harlem-Renaissance betrifft, die für einen emanzipatorischen Schub in den 1920er Jahren steht, so hat sie längst eine nachgerade mythische Aura gewonnen. Ablesbar nicht zuletzt an einem Roman wie Harlem Shuffle des Erfolgsautors Colson Whitehead, der die Legende weiterstrickt und nun die 60er Jahre recht publikumswirksam beschwört. Kein Geringerer als Ibram X. Kendi sprach Anfang des Jahres in einem Artikel für das Times Magazin von einer Black Renaissance schlechthin, wobei ihm wichtig zu betonen war, wie leid man es sei, nur als Vertreter einer „Race“ zu gelten. Mit all den kreativen Menschen aus dem Kulturbetrieb sei man jedoch einer „beschämenden Politik der Respektabilität entkommen. Wir zeigen, dass unser schwarzes Leben eine Bedeutung und Tiefe hat, die über die der weißen Menschen hinausgeht.“ Abgesehen von der unnötigen Zuspitzung ist Kendis Emphase nachvollziehbar. Er nennt die Black Renaissance die dritte große kulturelle Wiederbelebung der Schwarzen Amerikaner, für die das Harlem der 20er Jahre den Aufbruch markiert. In den Kunstbewegungen seit den 60ern erkennt er zu Recht einen weiteren Anschub und kommt deshalb zu dem Schluss: 

Aber wenn die Harlem Renaissance die Schwarzen Menschen dazu gebracht hat, sich selbst zu sehen, wenn die Schwarze Kunstbewegung die Schwarzen Menschen dazu gebracht hat, sich selbst zu lieben, dann bringt die Schwarze Renaissance die Schwarzen Menschen dazu, sie selbst zu sein. Vollkommen. Unapologetisch. Frei.

Umso erstaunlicher, wovon die Autor*innen der 20er Jahre erzählen. Um den Rassismus kommen auch sie nicht herum, aber ihr Blick auf die Hautfarbe und die Eigenwahrnehmung verblüfft und irritiert zugleich und konterkariert alle naheliegenden und wohlfeilen Erwartungen. Wir erleben Schwarze, für die das Weißsein begehrenswert erscheint, weil es sie ebenso privilegiert sein lässt, während der Blick auf die eigene Community unverhohlen rassistisch wirkt.

Die Mischung der Gene hat einige mit weißer Haut auf die Welt kommen lassen, unter der ihre Schwarze Abstammung verborgen bleibt. Wir erfahren von Hierarchien der Hautfarben. Je heller das Braun desto höher der gesellschaftliche Rang innerhalb der Community und desto entschiedener die Abgrenzung zu den anderen. Davon war bereits in Dorothy Wests Hochzeit zu lesen, die uns einen recht intimen Blick in die Schwarze Upper Class der Ostküste gewährte. In Nella Larsens Roman begegnet uns ebenfalls eine wohlhabende Schwarze Mittelschicht, und er handelt zugleich von einem riskanten Versteckspiel inmitten einer rücksichtslos exklusiven weißen Gesellschaft, für die die Haltung des „Off Limits“ eine brachiale Standardeinstellung bedeutet.

Meteorologische Befunde als schicksalhafte Vorzeichen haben in der Literatur eine gewisse Tradition. Bei Nella Larsen ist es die sommerliche Hitze in ihrer Gnadenlosigkeit. Die grellen Sonnenstrahlen empfindet sie als „stählernen Regen“. Es ist ein Tag, „an dem selbst die Umrisse der Gebäude bebten, als protestierten sie gegen die Hitze“. Ausgerechnet an so einem Tag entscheidet sich Irene Redfield für eine Einkaufstour. Schließlich sucht sie Erfrischung auf der Dachterrasse eines vornehmen Hotels, um sich ihren Nachmittagstee servieren zu lassen. Dass sie dort als Gast bedient wird, hat sie ihrer Hautfarbe zu verdanken, die nichts von ihrem Schwarzsein verrät. Und hier geschieht es, dass sie von einer anderen, sehr attraktiven Frau beobachtet wird. Ahnt sie vielleicht etwas? „Absurd! Unmöglich! Weiße waren doch so dumm in solchen Dingen“, denkt Irene. Die Fremde entpuppt sich schließlich als Bekanntschaft aus Kinder- und Jugendtagen. Es ist Clare Kendry, die, wie die Erzählerin selbst, hellhäutig ist und hinter deren „elfenbeinfarbener Maske“ eine spöttische Heiterkeit lauere.

Sie kommen ins Gespräch und Clare erzählt, sie habe einen Weißen geheiratet, der nichts von ihrer Herkunft ahne. Überhaupt verstehe sie nicht, warum nicht mehr hellhäutige Schwarze „die Seite gewechselt“ haben. „Es ist so furchtbar einfach. Wenn man der Typus ist, braucht man nicht mehr als ein bisschen Mut.“ Den jedenfalls besaß Clare, weshalb sie sich von ihrer früheren Welt verabschiedet hatte, fest entschlossen, fortan der weißen Gesellschaft anzugehören, „ein Mensch zu sein und nicht ein Objekt der Wohltätigkeit“. Dennoch fehlt ihr etwas.

Irene sieht das grundsätzlich anders, auch wenn sie ihre Hautfarbe gleichfalls hin und wieder als Maske verwendet, um mal eben der Dachterrasse des berühmten Drayton Hotels, das man als „The Drake“ kennt und das an Chicagos nicht minder berühmten Michigan Avenue liegt, eine Visite abzustatten. Die Begegnung löst in Irene ein Wechselbad der Gefühle aus. Sie erinnert sich an diese schon immer „katzenhafte“ Clare, die damals plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. „Sie war egoistisch, kalt und hart. Und doch hatte sie auch die seltsame Fähigkeit, einen Wärme und Leidenschaft spüren zu lassen, was manchmal aber geradezu theatralisch wirkte.“ Vor allem erinnerte sie sich, dass Clare schon immer diese Überheblichkeit an den Tag legte und nicht erst, seit sie als Weiße „durchging“. Trotzdem gibt es bei ihr die Angst vor der Entdeckung.

Irene wird Clare nicht mehr los, die nun plötzlich eine Sehnsucht verspürt, sich wieder unter „Ihresgleichen“ zu bewegen. „Das Problem mit Clare war, sie wollte immer auf zwei Hochzeiten tanzen; und schielte dann noch nach einer dritten.“ Als sich Irene am Frühstückstisch mit ihrem Mann Brian über Clares „Seitenwechsel“ unterhält, spricht sie von den zwiespältigen Gefühlen zwischen Missbilligung und Entschuldigung. „Er weckt unsere Verachtung und doch bewundern wir es eigentlich. Wir schrecken mit einer Art Abscheu davor zurück, decken es aber!“

Derweil zieht es Clare immer mehr nach Harlem, um die Gesellschaft von Schwarzen zu suchen. Irene will ihr das ausreden, weil das Risiko der Entdeckung zu groß sei. Doch Clare versucht so, ihre Einsamkeit loszuwerden. „Nicht einer einzigen Menschenseele nahe zu sein. Nie jemanden haben, mit dem man offen reden kann.“ Für Irene wird die Situation auch deshalb immer schwieriger, weil sie Clare mit einem Mal als Rivalin und Konkurrentin wahrnimmt. Sie plagt die Vorstellung, sie und ihr Mann könnten ein Verhältnis haben. Die Geschichte endet mit einem Eklat und recht abrupt.

Die zeitgenössische Kritik hatte das überraschende Finale ziemlich ungnädig aufgenommen, wie uns Fridtjof Küchemann in seinem Nachwort erinnert, verbunden mit dem Vorwurf, die Autorin habe sich vor dem Problem gedrückt, einen „richtigen“ Schluss zu finden. Zugegeben, Nella Larsen setzt auf eine recht ungewöhnliche Dramaturgie. Doch eigentlich passt sie zu einer seltsam unwirklichen Geschichte, die so flirrend wie die Sommerhitze durch den Roman pulsiert. Nebenbei und vielleicht eine Ironie des Schicksals: Nella Larsens literarische Karriere endete ebenso abrupt wie die Geschichte von Clare. Das Versteckspiel ist ausgespielt, das Kartenhaus eingestürzt, das nur aus Oberflächenglanz und schönem Schein erbaut war. Von der Autorin hätte man allerdings gerne noch mehr gehabt. Denn wie bei ihr die landläufigen Vorstellungen von Hautfarbe durcheinandergeraten, das ist lesenswert, weil sie den rassistischen Wahnsinn auf verblüffende Weise neu auslotet.

Titelbild

Nella Larsen: Seitenwechsel.
Neuausgabe, Erstveröffentlichung 1929.
Aus dem amerikanischen Englisch von Adelheid Dormagen.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
220 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200932

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