Plädoyer für konsequente Religionskritik

Ralph Ghadban rückt in seinem Buch „Allahs mutige Kritiker“ dem Islam wissenschaftlich auf den Leib

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang Februar 2018 schenkte der irakische Scheich Gaith al-Tamimi einem Zuschauer seiner TV-Sendung kräftig ein. Die Meinung des Zuschauers, Muslime bräuchten keine Christen, die ohnehin bloß Frevler seien, habe ihn „verletzt“. Anschließend begründete der Scheich, warum:

Facebook, Internet, Laptop, Handy – das sind alles Produkte der Juden und Christen. Sowie die Medien, die Druckerei, das Bildungs- und das politische System, der Rundfunk, die Busse, das Kopftuch, das deine Frau trägt, der Turban der Scheichs in den Moscheen, die Elektrizität, alles ist das Produkt der Juden und Christen, […]. Es ist nicht möglich, andere zu verachten, wenn wir selber nichts anzubieten haben.

Die Scheltrede des Scheichs gipfelte in der Frage:

[W]as hat der Islam außer Schwert und Sex (nikâh) gebracht? Du sagst, der Islam ist neu. Was hat er gebracht außer Sex, Entführungen und Vergewaltigungen? […] Was ist das für eine Religion? Der Krieg herrschte innerhalb der Familie des Propheten. […] Worauf bist du stolz? Auf die Apostasiekriege von Abu Bakr, bei dem die Hälfte der Araber umkamen?

Stimmen wie diese sind in der islamischen Welt seit dem Arabischen Frühling immer häufiger im Internet zu sehen, zu hören und zu lesen. Für die bundesdeutsche Leserschaft hat sie der Islamwissenschaftler und Politologe Ralph Ghadban dokumentiert. „Hätten diese Religionskritiker in Europa gelebt“, schreibt Ghadban, „wären sie alle als Islamophobe und Rassisten beschimpft worden.“ Als Beleg führt er den Politologen und Publizisten Hamed Abdel-Samad an, der bei uns als islamfeindlich und Rassist verunglimpft, in der islamischen Welt aber als Aufklärer geschätzt wird.

Ghadbans neues Werk Allahs mutige Kritiker. Die unterdrückte Wahrheit über den Islam ist kein Debattenbuch, sondern eine exzellent geschriebene, gut gegliederte, den aktuellen Forschungsstand zum Islam in aller Kürze resümierende, wissenschaftlich fundierte Studie. Hat man sie gelesen, versteht man sofort den zitierten Scheich. Denn die von ihm angeführten technischen Errungenschaften sind weder in Synagogen und Kirchen entstanden – mögen ihre Schöpfer im Privatleben auch gläubige Juden und Christen gewesen sein –, noch haben Özlem Türeci und Ugur Sahin, die beiden Biontech-Gründer, ihren lebensrettenden Impfstoff gegen Corona-Viren in einer Moschee entwickelt.   

Wie und wann entstand der Islam?

Die erste Hälfte seines Buchs widmet Ghadban der Entstehung des Islams und dem Wirken seiner frühen Akteure. Zentral sind dabei die politisch-historischen und religionsgeschichtlichen Kontexte der Spätantike. Der Krieg zwischen Byzanz und dem neupersischen Sassanidenreich (610-630) grundierte das Geschehen. Von Bedeutung war ferner die vorangegangene Spaltung in eine westliche (Rom), eine östliche (Byzanz) und eine orientalische Kirche. Orientalische Christen lehnten die römisch-griechische Trinität ab, den Glauben an die Dreifaltigkeit aus Gottvater, Gottessohn (Jesus) und Heiligem Geist. Das erklärt ihre Opposition zu Rom und Byzanz. Erbitterte innerchristliche Kontroversen und Konflikte zwischen Bewährungstheologen, Arianern, Nestorianern, Abrahamiten und Monophysiten hatten den seit über einem Jahrtausend in der Region verankerten Monotheismus enorm verkompliziert. Nicht wenige spätere Muslime waren zuvor Juden, Judenchristen und Christen, also mitnichten sämtlich der Vielgötterei verfallene Götzendiener, wie es die islamische Traditionsliteratur nahelegt. Letztere stellt Ghadban, der sie gut kennt, mit seiner historisch-kritischen, streng faktenorientierten Methode unablässig infrage.

Archäologie, Numismatik, philologische Textanalysen, Geschichts- und Religionswissenschaften liefern dem Autor die entscheidenden Argumente und Quellen. Am Anfang stand nicht der Islam, sondern eine unspezifisch monotheistische Bewegung von Gläubigen, die auf die absehbar zu erwartende Endzeit, den Jüngsten Tag, fokussiert gewesen ist. Auf Münzfunden und Felsinschriften in arabischer Sprache fehlen der Name Muhammad und die Verbindung zum Islam anfangs völlig, wie Ghadban unter Rekurs auf den israelischen Archäologen Yehuda Nevo zeigt. 

„Araber“ bildeten in der Spätantike keine Ethnie. ‚Arabia‘ nannte man seit den Römern eine Region, die erstens die Provinzen Syria, Palästina und den nordwestlichen Teil der arabischen Halbinsel bis zum Roten Meer umfasste sowie zweitens das nördliche Mesopotamien. „Arab“ bedeutete „Westen“ und Araber waren die überwiegend aramäischen Bewohner des Westens, womit westlich des Flusses Tigris gemeint gewesen ist, erläutert Ghadban. Das Arabische war damals eine mündliche Kultur. Schriftlich fixiert wurde sie zunächst mit aramäischen Schriftzeichen. Eine arabische Schriftsprache entwickelte sich erst allmählich.

Seine kanonische, aber keineswegs letzte Gestalt erhielt der Koran unter dem Kalifen Osman (ermordet 656). Alle hierfür genutzten Materialien – Holzstückchen, flache Steine, Knochen, Palmblätter mit Versen, die den Koran-Rezitatoren als Gedächtnisstütze gedient hatten – sowie Fragmente auf Papyrus oder Pergament mussten anschließend verbrannt werden. In den folgenden Jahrhunderten kam es wiederholt zu formalen, aber auch inhaltlichen Bearbeitungen. Die neuere Forschung hält den Koran für einen „Cocktail“ (Gerd R. Puin) älterer Texte aus verschiedenen religiösen Milieus, die durch die Kompilation ihre ursprünglichen Kontexte verloren hatten, weshalb ihr Sinn selbst arabischen Muttersprachlern stellenweise unverständlich bleibt.

Der Name „Muhammad“ erscheint erstmals unter dem Omayyaden-Kalifen Abdel Malik (685-705) auf Inschriften an Gebäuden wie dem Felsendom in Jerusalem, auf Wegweisern, Gräbern und Münzen. Abdel Malik schuf ein Imperium und islamisierte seine Verwaltung. Doch erst 150-200 Jahre nach ihrem angenommenen Tod tauchte die Figur eines Religionsstifters, Militärführers und Staatsmanns namens Muhammad in der islamischen Traditionsliteratur auf.

Ist der Islam eine Religion oder eine politische Ideologie?

Diese Frage lässt sich klar beantworten: Der Islam war immer beides. „Muhammad war ein Prophet mit politischer Mission“, zitiert Ghadban die Islamwissenschaftlerin Patricia Crone, und paraphrasiert weiter: Sein „Gott befürwortete politische Eroberungen“. Muhammads Wirken habe sich mit den Interessen der Stammesgesellschaft gedeckt, weshalb der Prophet erfolgreich gewesen sei. Auch der Islamwissenschaftler Fred Donner betonte, dass die Militanz der von ihm ausgemachten monotheistischen Bewegung der Gläubigen unübersehbar ist, es dabei jedoch nicht um eine spezifische Religion gegangen sei. Im Mittelpunkt stand vielmehr die rigorose Einhaltung der Gebote des einen und einzigen Gottes. Es galt, führt Ghadban aus, „den ideologischen Krieg der Gläubigen zu legitimieren, was im Koran reichlich geschieht“. Auf dem Programm standen die „politische Unterwerfung“ sowie „Steuerabgaben“ von Juden und Christen. Militärischer „Erfolg“ und „Staatsbildung“, so Ghadban, seien „Hand in Hand“ gegangen „mit der Schaffung einer neuen Religion“. Doch außer dem Zusatz „und Muhammad ist sein Gesandter“ im Glaubensbekenntnis und dem Anspruch, die Kette der vorangegangenen jüdischen und christlichen Propheten und Offenbarungen abzuschließen, gab es speziell im Religiösen nichts, das nicht bereits von Juden und Christen praktiziert worden wäre: Beten, Fasten, Pilgern und Armenfürsorge. Fortan diente die neue Religion der politischen Herrschaftslegitimation und war von ihr nicht mehr zu trennen. Nicht abreißende Machtkämpfe und interne Bürgerkriege – was der eingangs angeführte Scheich noch viel ausführlicher darlegte – folgten auf den Fuß. Auch das ist ein Grund dafür, weshalb islamisch geprägte Länder bislang oft nur die Alternative von Koran und Kaserne kennen. 

Die kurze wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit unter der abbasidischen Kalifen-Dynastie in Bagdad und Basra ab Mitte des 8. Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende ist für den Islam nicht charakteristisch. In diesen Zeitraum fällt die Gründung des „Hauses der Weisheit“, einer Art Akademie, an der Juden, Christen und Muslime antike Werke der Philosophie, Mathematik, Medizin und Naturwissenschaft vor allem aus dem Griechischen und Aramäischen ins Arabische übersetzten. Einen Höhepunkt dieser Phase stellten fraglos die Mu‘taziliten dar, islamische Gelehrte, die Ghadban zufolge nur akzeptierten, was rational, durch Vernunft und durch den freien Willen des Menschen begründbar war. Sie führten die berühmten Streitgespräche mit Juden und Christen. Eine langlebige Praxis konnten sie jedoch nicht begründen, weil über sie schließlich die Traditionalisten mit ihren Rechtsschulen siegten. Für das kommende Jahrtausend war es laut Ghadban mit der Vernunft im Islam vorbei. Die überschaubar gebliebenen Versuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, den Islam unter Bezugnahme auf die Mu‘taziliten zu reformieren, sind erwartungsgemäß gescheitert.

Das Plädoyer des Autors für Religionskritik, die immerhin eine Säule der europäischen Moderne darstellt, fällt unmissverständlich aus. Ralph Ghadban ist das Kunststück eines Buches geglückt, das Information, Reflexion und Argumentation auf gelungene Weise miteinander verknüpft.

Titelbild

Ralph Ghadban: Allahs mutige Kritiker. Die unterdrückte Wahrheit über den Islam.
Herder Verlag, Freiburg 2021.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783451385919

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