Internationaler Lyrik eine Heimat geben

Ein Gespräch über die Vermittlung von Gedichten und Übersetzungen mit Lyrikline-Projektleiter Heiko Strunk

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Heiko Strunk ist seit 1999 Redakteur und Projektleiter von Lyrikline beim Haus für Poesie. Die Website stellt zahllose lyrische Texte internationaler Autor*innen im Original, in Übersetzung und als Tonaufnahme vor. Für literaturkritik.de sprach er mit Mario Wiesmann.

 

literaturkritik.de: Als wir in der Redaktion von literaturkritik.de beschlossen haben, ein Heft zum Thema ‚Übersetzung‘ zu machen, musste ich sofort an Lyrikline denken. Nicht nur, weil Ihr Portal einen besonderen Zugang zu lyrischen Übersetzungen bietet, sondern auch, weil auf Lyrikline so viel passiert und ich mich immer gefragt habe, wie der kreative Austausch im Hintergrund organisiert wird. Fangen wir am besten vorne an: Wie landet ein Gedicht überhaupt auf Lyrikline?

Heiko Strunk: Lyrikline präsentiert seit über zwanzig Jahren nationale und internationale Poesie als Text und immer auch als Ton im Internet. Numerisch betrachtet haben wir seit der Eröffnung im November 1999 alle fünf bis sechs Tage eine neue AutorIn mit zumeist zehn Gedichten online gestellt.
Die Quellen der Sammlung sind gemäß der langen Laufzeit des Projektes dementsprechend divers. Rund die Hälfte der AutorInnen wurde in Berlin aufgenommen, zumeist als Gäste der kuratierten Programme des Hauses für Poesie bzw. des Poesiefestivals Berlin. Einige Stimmen kamen dank konkreter Kooperationen ins Projekt, wie beispielsweise mit dem Literarischen März oder der Latinale, oder wurden in unserer Veranstaltungsreihe Lyrikline Live von DichterkollegInnen explizit für eine ‚Aufnahme‘ kuratiert.
Die andere Hälfte unserer DichterInnen wurde von unseren internationalen Partnerinstitutionen beigesteuert, die die Auswahl der Stimmen ihres Sprachraums mitverantworten.

literaturkritik.de: Auf Ihrer Webseite schreiben Sie, dass der Schwerpunkt Ihrer Arbeit „in der Vermittlung internationaler Poesie“ liegt. Was macht ein Gedicht denn international?

Strunk: Wir versuchen, jedem Besucher und jeder Besucherin die Möglichkeit zu bieten, einfach und unaufwendig mit zeitgenössischer Poesie in Kontakt kommen zu können. ‚Internationale Poesie‘ meint somit wohl jeweils die DichterInnen, die aus BetrachterInnenperspektive nicht der je eigenen nationalen Literaturlandschaft entstammen bzw. in dieser zu Hause, und insofern auch nicht so einfach zu entdecken sind.

literaturkritik.de: Die Vermittlung von Poesie in andere Sprachen ist bekanntermaßen eine schwierige Aufgabe. Wie sehen Sie das: Gibt es unübersetzbare Autor*innen? Gibt es Gedichte, die Sie auf Lyrikline erst gar nicht aufnehmen? Auf der Plattform finden sich ja durchaus herausfordernde Texte wie Groschen von Detlev Meyer, der ganz aus einer Aneinanderreihung deutscher Idiome besteht – und auch noch nicht übersetzt wurde.

Strunk: Mit jeder Übersetzung erweitern sich die Reichweite und die Resonanzräume eines Gedichtes.
Aber sicherlich gibt es Poesie, die so erst mal nicht übersetzbar ist, Soundpoetry zum größten Teil, Mundartdichtung etc. Und prinzipiell muss man/frau bei der Übersetzung wohl auch immer einen gewissen Schwund in Kauf nehmen, sei es auf der Bedeutungs-, Rhythmus-, Klang- oder Bildebene. Ein Gedicht wie Groschen könnte aber durchaus in eine andere Sprache übertragen werden, insofern die ÜbersetzerIn in der Zielsprache mit sich anbietenden Idiomen eine derartige Reihung hinbekommt. So werden dann weniger die Worte, als vielmehr die Idee des Gedichtes und das Spiel mit der Sprache übertragen.
Die Übersetzbarkeit an sich spielt bei der Auswahl der Gedichte keine allzu große Rolle, allerdings gebe ich den DichterInnen für die Gedichtauswahl mitunter den Rat, gegebenenfalls Gedichte einzubeziehen, die vielleicht schon in der einen oder anderen Übersetzung vorliegen.

literaturkritik.de: Wie findet ein Gedicht dann seine Übersetzerin oder seinen Übersetzer? Zum Teil stehen ja auf der Seite früher veröffentliche Übersetzungen, aber bei den meisten läuft das doch anders ab, oder?

Strunk: Bei über 20.000 Übersetzungen sind die Wege, wie eine Übersetzung Eingang ins Projekt gefunden hat, entsprechend disparat. Fest steht, dass ohne Übersetzungen, das heißt ohne die engagierte, kreative und präzise Arbeit der beteiligten ÜbersetzerInnen Lyrikline wenig Sinn hätte. Deshalb gehört von Anfang an die Sammlung von Übersetzungen zu den Grundprinzipien von Lyrikline. Unsere internationalen Partnerinstitutionen sind beispielsweise schon immer gebeten, genauso viele Übersetzungen einzubringen wie Gedichte.
Viele Übersetzungen wurden uns aber auch von den DichterInnen selber vermittelt oder von aufmerksamen ÜbersetzerInnen direkt zugeschickt, andere entstanden im Rahmen von Übersetzungsworkshops im Haus für Poesie oder wurden von der Berliner Redaktion in Auftrag gegeben. Mitunter gibt es Präferenzen seitens der DichterInnen oder Vorlieben und Referenzen, die ÜbersetzerInnen auszeichnen, bestimmte Gedichte zu übersetzen, gelegentlich entscheidet wohl auch der Moment oder der Zufall.

literaturkritik.de: Also achten Sie auch darauf, dass sich bestimmte, besonders geeignete Lyriker*innen mit bestimmten Gedichten befassen?

Strunk: Vor allem braucht es poesieaffine ÜbersetzerInnen, die nicht nur verstehen, was in der Ausgangssprache gesagt und gemeint ist, sondern auch ein Händchen dafür haben und sich zutrauen, Wort-, Klang-, Bild- und Sinnelemente in der eigenen Sprache wieder zu einem Gedicht zusammenzufügen. Nicht selten sind dies dann auch selbst erfahrene und etablierte LyrikerInnen.
Wichtig ist uns zudem, dass aus der Originalsprache übersetzt wird, und nicht anhand einer bereits bestehenden Übersetzung in einer Drittsprache.

literaturkritik.de: Wie stark greifen Sie dann in die Arbeit der Übersetzer*innen ein? Haben Sie einen Maßstab dafür, was eine gute Übersetzung ist und auf die Seite passt – und was zum Beispiel nur noch Nachdichtung ist? Oder möchten Sie sich aus solchen Fragen raushalten?

Strunk: Abgesehen von Tippfehlern greifen wir eigentlich nicht in Übersetzungen ein. In Sprachen, die wir nicht verstehen, sowieso nicht. Es ist aber schon vorgekommen, dass wir Hinweise auf unglückliche Formulierungen oder missverstandene Verse, die uns über unsere LeserInnen erreicht haben, an die ÜbersetzerInnen weitergegeben haben, oder auch, dass wir beauftragte ÜbersetzerInnen auf vielleicht weniger gelungene Wendungen oder Ähnliches aufmerksam gemacht haben.
Maßstäbe für gute Übersetzungen gibt es meines Erachtens nicht.

literaturkritik.de: Das erklärte Ziel der Plattform ist ja, Menschen mit Lyrik vertraut zu machen. Was machen Sie dabei mit Lyrikline besonders? Wie wird ein Gedicht auf Lyrikline idealer Weise präsentiert?

Strunk: Mit der Originalstimme des Dichters bzw. der Dichterin – Stichwort Authentizität und Präsenz – und dem Vortrag, der die klanglichen Aspekte eines Gedichtes hörbar werden lässt, die lautlichen Bezüge und rhythmischen Strukturen, Reime, Assonanzen, Alliterationen et cetera, wären meines Erachtens neben dem Erscheinungsbild des Originaltextes und dem Vorhandensein einer Übersetzung, die ein Verständnis ermöglicht, alle Aspekte genannt, mit denen ein Gedicht idealer Weise präsentiert werden sollte.

literaturkritik.de: Kommt es auch vor, dass aus Übersetzungen, die für Lyrikline entstanden sind, Buchprojekte werden? Oder vielleicht sogar internationale Freundschaften zwischen Autor*innen?

Strunk: Es kommt regelmäßig vor, dass von uns beauftragte ÜbersetzerInnen in Kontakt mit den DichterInnen treten, deren Gedichte sie übersetzten, und da gab es, soweit ich weiß, mitunter sehr anregende Korrespondenzen. Und ich meine, auch von entstandenen Buchprojekten erfahren zu haben, aber Genaueres bedürfte einer eingehenderen Recherche.
Als Initiative des Hauses für Poesie profitiert Lyrikline synergetisch von den ‚Versschmuggel‘ genannten Übersetzungsworkshops des Hauses für Poesie, und bei diesen mehrtägigen Begegnungen sich gegenseitig übersetzender DichterInnen sowie der hin und her dolmetschenden ÜbersetzerInnen sind gleichfalls schon Freundschaften geschlossen worden.

literaturkritik.de: Auf Lyrikline kann man inzwischen Texte in 88 Sprachen lesen. Diese Sammlung pflegen Sie in Zusammenarbeit mit vielen Literaturinstitutionen in anderen Ländern. Können die alle unter ähnlichen Bedingungen arbeiten wie Sie?

Strunk: Die vielen internationalen Kooperationen waren über die letzten 20 Jahren naturgemäß auch gewissen Schwankungen unterworfen. Partnerorganisationen haben gewechselt, staatliche wie nicht-staatliche Organisationen mussten ihre Aktivitäten einstellen, und zudem sind solche Kooperationen immer von den Interessen und dem Engagement Einzelner abhängig. In etlichen Ländern gibt seit vielen Jahren sehr aktive MitstreiterInnen, in anderen Fällen können die Partnerschaften nach Phasen intensiver Zusammenarbeit und vieler Beiträge aber auch mal längere Zeit ruhen.

literaturkritik.de: Was haben Sie noch für die Plattform geplant?

Strunk: Am Hieronymustag 2021 haben wir gerade erst auf Lyrikline eine Datenbank eröffnet, die sowohl die ÜbersetzerInnen als auch die Übersetzungen durchsuchbar und nach Ausgangs- und Zielsprachen sortierbar macht. Zugleich haben wir auch die Infrastruktur geschaffen, die beteiligten ÜbersetzerInnen sukzessive einladen zu können, sich auf Lyrikline ein Profil einzurichten und dort mit ihren Übersetzungen zu präsentieren. Aktuell erarbeiten wir für Lyrikline zudem eine Art digitaleWerkstatt, die verschiedene Möglichkeiten und Nutzungsszenarien des gemeinsamen und kollektiven Übersetzens ermöglichen und erproben soll. Beide Erweiterungen werden uns auch weiterhin noch lange Zeit beschäftigen. Genau wie Lyrikline sich über 20 Jahre hinweg stets weiterentwickeln konnte, so muss auch der neuen Übersetzerdatenbank und dem Übersetzungstool Zeit gegeben werden, sämtliche Potentiale zu entfalten. Die aktuellen Maßnahmen werden ermöglicht durch Mittel des Programms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, zur Verfügung gestellt vom Deutschen Übersetzerfonds.