Das große Nichts

Mit ihren Aufzeichnungen „Die Tage des Rauchs“ holt Ellis Avery die Erinnerung an den 11. September 2001 ungefiltert wieder hervor

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich ging aus dem K-Mart raus und schaute in den Himmel. Ein perfektes Septemberblau. Durchkreuzt von einer schwarzen Rauchwolke, die von rechts nach links die Lafayette Street hinwegwaberte.“ Ellis Avery kam gerade vom Einkaufen, in ihrer Tüte lagen Toilettenpapier, Zahnbürste und Seife. Zuvor hatte sie ihr Manuskript zum Kopieren gebracht. Sie arbeitete damals an ihrem ersten Roman, es schien an der Zeit, ihn an verschiedene Verlage zur Prüfung zu schicken. Die schwarze Rauchwolke konnte sie sich vorerst nicht erklären. Bis ein Mann an ihr vorbeiging und in sein Mobiltelefon sagte, dass ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht sei. „Ich dachte: ‚Aber das ist dreißig Blocks entfernt. Was für ein kranker Witz‘, lief ihm trotzdem hinterher und zupfte ihn am Ärmel. ‚Stimmt das?‘, fragte ich.“ Er bejahte, und Ellis Avery hatte immer noch keine Ahnung, was genau das heißen sollte. Sie holte ihre Kopien ab. Als sie mit Kreditkarte bezahlen wollte, erklärte ihr die Frau, dass alle Verbindungen unterbrochen seien, wegen dem, was gerade passiert sei. Nur langsam drang zu ihr durch, dass eben etwas Unvorstellbares über sie hinwegbrach. Sie realisierte, dass sie von ihrer Geliebten Sharon, die am Morgen zur Arbeit nach Princeton gefahren war, abgeschnitten war, und sah keine Möglichkeit, wie sie das ändern könnte. Plötzlich kamen ihr all die Freundinnen, Familienangehörigen und Bekannten in den Sinn, von denen sie nicht wusste, wo sie waren und ob sie noch am Leben waren. 

Ellis Avery versuchte zu erfahren, was genau war, versuchte zu verstehen, was das für sie hieß. Und sie schrieb alles genau auf. In kurzen Kapiteln, in knappen Sätzen, ohne erklären zu wollen, ohne zu gewichten. Die damals 29-jährige Autorin machte ihre Ängste und Befürchtungen ebenso zum Thema wie die Erschütterungen, etwa jene, die sie jedes Mal wieder erlebte, wenn sie beim Washington Arch die vielen Vermisst-Zettel las, hilflos, traurig: „VASANTHA KUMAL, 23 Jahre alt, 1.70 m 52 kg, Geb. 17.8.78“. Ihre Verzweiflung wuchs, als sie feststellte, dass sie und Sharon nicht einfach zusammenkommen konnten, dass die Züge nicht fuhren, die Telefonleitungen überlastet oder tot waren. Dass so viele Fragen unbeantwortet blieben. 

Mit ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen gelingt Ellis Avery ein überzeugendes Dokument der Tage unmittelbar nach den Attentaten vom 11. September 2001, das die ganze Verstörung erlebbar macht, auch noch zwanzig Jahre danach. Es sind Gefühle der Scham, der Verzweiflung, der Hilflosigkeit. Und der Angst. Immer wieder diese Angst, dass die Vergeltungsschläge der US-Regierung andernorts ebensolches Leid zufügen würden. Ellis Avery musste etwas dagegen tun. Wie viele andere schickte sie Postkarten an den Präsidenten und an Senator:innen. 

Auf einer schrieb ich einen Brief an den Präsidenten: „Ich lebe in New York und habe die Brutalität eines Anschlags auf ganz normale Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt miterlebt. Ich bitte Sie darum, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ohne das Leben unschuldiger Menschen zu gefährden.“

In der Nachbemerkung zeichnet Sharon Marcus, die Frau von Ellis Avery, deren Leben nach. Die mit 37 Jahren früh verstorbene Autorin wurde mit ihren Romanen international bekannt. 2001 arbeitete sie an einem Coming-of-Age-Roman, täglich – so hatte sie es sich seit ein paar Jahren zur Aufgabe gemacht – verfasste sie ein Haiku. Das knappe Festhalten von Erlebtem lag ihr. Die Aufzeichnungen sind zu lesen als ihre Reaktion als Autorin auf die Zerstörung der Twin Towers: „alles mit Worten festhalten, was sie sah, hörte, dachte und fühlte.“ So entstand in der Überarbeitung der im September 2021 auf Deutsch erschienene lyrische Prosatext Die Tage des Rauchs, der im Original unter dem Titel The Smoke Week 2003 bei Gival Press erschien, nachdem mehrere Verlage abgesagt hatten, viele davon mit der Begründung, im Buch gehe es eher um eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen als um die Anschläge auf die Twin Towers. Dass dieser sehr persönliche und aus unmittelbarer Betroffenheit entstandene Text gerade dadurch seine große Kraft schöpft, lässt sich in der überzeugenden Übersetzung von Alex Stern und dank des Lillienfeld Verlags nun auch im deutschen Sprachraum nachlesen.

Titelbild

Ellis Avery: Die Tage des Rauchs. 11.-21. September 2001.
Aus dem amerikanischen Englisch von Alex Stern.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2021.
120 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783940357892

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