Versuch einer nachgetragenen Zuneigung
Bernhard Schlinks „Die Enkelin“ verhandelt Generationenübergreifendes vom geteilten Deutschland der 1960er Jahren bis heute – und ist der Roman eines Erziehungsexperimentes
Von Marcus Neuert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnfall oder Selbstmord? Birgit, die ein von innerer Unruhe getriebenes Leben mit einem sich zuspitzenden Alkoholproblem an der Seite des ruhigen Buchhändlers Kaspar in Berlin führt, liegt eines Abends ertrunken in ihrer Jugendstil-Badewanne. Der trauernde Witwer, den mit Birgit rund fünfzig gemeinsame Jahre verbinden, seit sie 1964 als blutjunge Studentin aus der DDR zu ihm in den Westen geflohen ist, findet in ihrem Nachlass einen angefangenen Roman mit deutlich autobiografischen Zügen, aus dem hervorgeht, dass sie dort ihre neugeborene Tochter Svenja aus einer Affäre mit einem verheirateten SED-Funktionär zurückließ – eine Tatsache, über die sie mit Kaspar in all der Zeit nie gesprochen hat.
Birgit selbst hat nie die Kraft und den Mut aufgebracht, nach dem Verbleib ihrer Tochter zu fahnden, sich ihr zu offenbaren und Abbitte zu leisten. Kaspar will diesen Wunsch, der aus dem unvollendeten Manuskript zu ihm spricht, für seine tote Frau nun erfüllen. Er recherchiert, reist in die Provinz und findet schließlich Svenja, die mit ihrem Mann Björn und ihrer Tochter Sigrun im völkischen Siedlermilieu in einem mecklenburgischen Dorf lebt. Er erkennt schnell, dass Svenja selbst aufgrund der verstrichenen Zeit und ihrem nach zahlreichen persönlichen Widerfahrnissen endlich gefestigten Daseins für diese Sühneaktion des „Sich-Anbietens“, wie Kaspar es mehrmals demutsvoll ausdrückt, nicht mehr die Richtige ist. So projiziert er seine Bemühungen auf Sigrun, seine vierzehnjährige Stiefenkelin. Mit der Aussicht auf einen nicht unbeträchtlichen Erbteil Birgits, der leiblichen Großmutter Sigruns, gelingt ihm ein Handel mit den misstrauischen Eltern: Sigrun darf in den Schulferien regelmäßig Zeit bei Kaspar in Berlin verbringen. Die neurechten und linksliberalen Lebenswelten prallen dabei erwartungsgemäß hart aufeinander, doch es gelingt Kaspar immerhin, Sigruns Lektüren zu beeinflussen und sie für das Berliner Kulturleben und das Klavierspielen zu gewinnen. Behutsam und begleitet von allerlei Rückschlägen kommen sich die beiden näher, bis Sigruns Vater Björn die ihm und seinen völkischen Lebensvorstellungen immer mehr entgleitende Tochter dem Einfluss Kaspars dauerhaft entzieht.
Zwei Jahre später sucht Sigrun, inzwischen volljährig und dem Landleben ins rechtsautonome Hauptstadtmilieu entflohen, in einer Notlage Kaspar wieder auf. Als Zeugin eines Mordes an einem linken Studenten, die jedoch die Loyalität zu ihrer Tätergruppe nicht aufgeben will, hilft ihr der Großvater schließlich, sich nach Australien abzusetzen, wo sie absehbar ein Musikstudium aufnehmen wird.
Eine Liebesgeschichte ist Die Enkelin nicht gerade. Kaspars Beziehung zu Birgit entpuppt sich im Rückblick mehr und mehr als ein freundliches Nebeneinander, dem die wichtigste Voraussetzung für eine tiefe Verbindung zu fehlen scheint – nämlich echtes Vertrauen; wie anders wäre es zu erklären, dass Birgit ihm auch nach Jahrzehnten nichts von ihrem traumatischen Erlebnis, die eigene Tochter zurückgelassen zu haben, erzählt hat? Umgekehrt müsste Kaspar doch in all der Zeit diese Leerstelle in der Beziehung aufgespürt, mindestens einen Verdacht gehegt haben.
Dass Bernhard Schlink geschichtliche Hintergründe für die privaten Schicksale seiner Protagonisten auszuloten versteht, hat er mit seinem Welterfolg Der Vorleser von 1994 gezeigt. Die Verbindung vom DDR-Alltag der 1960er Jahre, von dem Birgits Manuskript erzählt, und dem bundesrepublikanischen Nachwende-Mitteldeutschland mit seiner völkischen Siedler-Bewegung, in dem sich Schlinks Protagonist Kaspar bewegt, gerät ihm dagegen mitunter reichlich holzschnittartig. Björn etwa wird als geldgieriger, überheblicher und ideologisch fanatisierter Familienvater mit Hang zu physischer Gewalt beschrieben, das ungebrochen Verbohrte und Böse, das in Opposition zum scheinbar liberalen, offenen, „sich anbietenden“ Kaspar steht, der alle Demütigungen Björns klaglos erträgt, um die Agenda von der geistig-moralischen Errettung seiner Stiefenkelin durchziehen zu können.
Diese Allüre Kaspars, für die uns Schlink spürbar einnehmen möchte, offenbart jedoch nur das eigentlich Überhebliche jenes halblinks-urban geprägten Bildungsbürgertums, an welchem der jüngste Sproß der völkisch-unterbelichteten Landfamilien-Welt genesen soll (wobei Björn allerdings ursprünglich aus Niedersachsen stammt – die Konstruktion ist weniger eine west-ost-lastige als eine der kulturellen Dichotomien). Geld gegen Einfluss auf Erziehung und Neigung – es ist schwer vorstellbar, dass so etwas in dieser Form im wahren Leben unserer Tage gelingen könnte, und Schlink ist natürlich professionell genug, um seinen Kaspar sich dies auch immer wieder fragen zu lassen: welchen Stellenwert seine Ferien-Erziehung in Bezug auf Sigrun überhaupt entwickeln kann. Durch jene selbstreflexiven Schleifen Kaspars wird das ganze Experiment für die Leserschaft einigermaßen erträglich, denn die Beantwortung dieser Frage bleibt trotz aller Über-Konstruiertheit der Handlung natürlich von Interesse. Sieht man einmal von Kaspar ab, sind die restlichen Figuren durchweg wenig facettenreich gezeichnet: sie werden das Prototypische ihrer Funktionen im Roman nie wirklich los. Auch die mitunter gesucht wirkenden Dialoge zwischen Kaspar und dem restlichen Personal tragen wenig zu dessen Authentizität bei.
Dass Sigrun letztlich nicht durch Gespräche und verbale Belehrung, nicht durch neue Leseeindrücke und nicht einmal durch die Gewalterfahrungen mit ihrer rechtsautonomen Blase in Berlin, sondern ganz vorrangig durch ihre Hinwendung zur Musik zu ihrem eigenen Weg findet, der absehbar schließlich auch zur Abkehr von ihren familiär erworbenen engstirnigen Sichtweisen führen könnte, ist immerhin eine kluge kompositorische Entscheidung des Autors, die am Ende dann doch einiges zu einer relativen Plausibilität der Romanhandlung beitragen kann.
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