Der Fall Lou Andreas-Salomé und die interessanteste Sache der Welt

Anna Leyrers Untersuchung „Die Freundin“ beleuchtet freundschaftliche Beziehungen unter Frauen um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar definiert Immanuel Kant im § 46 des der Tugendlehre gewidmeten Teils seiner Altersschrift Die Metaphysik der Sitten die vollkommene Freundschaft als „Vereinigung zweier Personen durch gleiche wechselseitige Liebe und Achtung“ (Herv. R.L.). Tatsächlich aber wurde sie gerade von philosophischer Seite über die Jahrtausende hinweg als Männerfreundschaft gedacht. Nicht zuletzt darum ist die Beziehung zwischen Freundinnen noch heute ein unbearbeitetes Forschungsfeld, und zwar nicht nur in der Philosophie.

Anna Leyrer ist nun angetreten, dies zu ändern. Ihre Studie Die Freundin nimmt zwar die Beziehungen von Lou Andreas-Salomé zu drei ihrer engsten Freundinnen in den Blick, doch interessiert sie sich für die Person Andreas-Salomé und ihre Freundschaften zu Frieda von Bülow, Ellen Key und Anna Freud nicht nur um ihrer selbst willen, sondern zieht den „Fall Lou Andreas-Salomé“ heran, um an ihm eine „mikrohistorische Fallstudie“ durchzuführen, welche die Fragen „aufschlüsseln“ soll, „die sich mit und von der Freundin her stellen“. Denn am Fall Andreas-Salomé lasse sich deutlich machen, dass „selbst in der ‚Zugehörigkeit’ – in diesem Fall zu den intellektuellen Kreisen und Persönlichkeiten der Jahrhundertwende – die Freundin eher am Rand steht“. Die „Position der Freundin“ lässt sich Leyrer zufolge eben „nicht aus der großen Erzählung der Freundschaft ableiten“. Da diese von Männerfreundschaften erzähle, sei die „Freundschafts-Geschichte“ von Freundinnen „von der ‚Unzugehörigkeit’, von der Differenz her zu erzählen“. 

In Fragen der Methodik sind Jacques Derrida, Roland Barthes und Jacques Rancière Leyrers zentrale Gewährsleute, wobei sie sich insbesondere die „Methode des wilden In-Bezug-Setzens“ der beiden letzteren zu eigen macht. Die Bedeutung des Begriffs Fall definiert die Autorin allerdings nicht unter Bezugnahme auf einen der drei Theoretiker, sondern mit Jean-Claude Passeron und Jacques Revel als „eine Auffälligkeit, eine Störung der Forschungslogik“. Somit stehe der Fall „für eine horizontale Logik ein, die die Gleichwertig- und Gleichzeitigkeit theoretischen und empirischen Arbeitens erfordert“. Zu einem solchen Fall werde Lou Andreas-Salomé, „wenn sie nicht mehr als Muse oder femme fatale in einer klassischen Position als Frau neben den großen Männern gedacht wird und zugleich die biographische Falle des singulären Ausnahmelebens umgangen wird“.

Da sich Leyrers primäres Interesse weder auf Andreas-Salomé als Person, noch auf die von ihr geschaffenen Werke richtet, sondern eben auf den „Fall Lou Andreas-Salomé“, versteht sie ihre Untersuchung „nicht zuvorderst“ als „Beitrag zur Lou Andreas-Salomé-Forschung“. Dass sie für diese dennoch bereichernd ist, ist nicht zuletzt den Zitaten aus den ungedruckten Korrespondenzen Andreas-Salomés mit Frieda von Bülow und Ellen Key zu danken.

In den Verhältnissen Andreas-Salomés zu ihren drei Freundinnen macht Leyrer jeweils eine bestimmte „Konstellation von Beziehung und Geschlecht“ aus. Im ersten, Andreas-Salomés Freundschaft mit ihrer „enge[n] Vertraute[n]“ Frieda von Bülow gewidmeten Abschnitt geht sie der Frage nach, inwiefern Freundinnenschaft „eine Gleichheitsbeziehung ist, sein muss oder sein soll“, und beantwortet die „feministische Frage nach der Gleichheit“ neu, indem sie „erkundet, wie die Freundin Ungleichheit hervorbringt“. Dabei führt sie die Positionen der Feministinnen von Bülow und Hedwig Dohm eng. In Leyrers Worten unterscheiden „Männer und Frauen sich“ Dohm zufolge zwar, doch führe die Feministin hierfür „historische Gründe“ an, „die mit genügend Zeit überwunden werden können“. Von Bülow sehe das ganz ähnlich, womit beide als Gleichheitsfeministinnen ausgemacht sind. Andreas-Salomé, so kann Leyrer leicht zeigen, betont hingegen die Geschlechterdifferenz. „Während […] für die Frauenbewegung die Frau immer noch Mensch werden muss, ist für Lou Andreas-Salomé der Mensch immer schon Weib“, formuliert Leyrer prägnant. Anders als Dohm will sie in Andreas-Salomé allerdings keine Antifeministin erkennen, sondern eine Feministin, die ähnliche Positionen vertreten habe wie noch heute die Mailänder Feministinnen der 1984 gegründeten Philosophinnengruppe Diotima.

Obgleich Bülow und Salomé in vielen Dingen uneins waren, etwa in Fragen der Frauenemanzipation oder in literarischen Fragen, kam es „[nie] zum endgültigen Bruch“. Hingegen habe sich die ‚fehlende’ „Geschlechterdifferenz“ zwischen ihnen „als Problem dar[gestellt]“, da ohne sie „jede Distanz wegzufallen droht“. 

Im diesem Andreas-Salomés Freundschaft zu von Bülow gewidmeten Abschnitt ist „der als hoffnungsloser Misogynist verschrien[e]“ Altphilologe und Aphoristiker Friedrich Nietzsche geradezu allgegenwärtig. Immer wieder wird er von Leyrer neben das Frauenpaar gerückt oder gar störend zwischen die beiden Freundinnen gedrängt. Dass Andreas-Salomé eine „zugleich genaue und originelle Nietzsche-Leserin“ war, trifft zwar zweifellos zu. Wohl kaum hingegen, dass man sie als Lebensphilosophin bezeichnen“ könne, was Leyrer immerhin sogleich wieder relativiert. Denn Andreas-Salomé sei „mit Derrida gesprochen und in einem positiven Sinn, genau keine Philosophin“. Eine „lebensphilosophische Haltung“ habe sie dennoch an den Tag gelegt, beharrt die Autorin dann aber doch.

Wie von Bülow habe Andreas-Salomé auch Ellen Key „über literarische und intellektuelle, auch dezidiert frauenbewegte Kreise“ kennengelernt. Ihrer Freundschaft gilt der zweite Teil der vorliegenden Studie. In ihm unternimmt es Leyrer, anhand „der Abgrenzung von Freundschaft und Liebe“ zu verdeutlichen, dass zwar „Männerfreundschaften auf den definitorischen Ausschluss von Frauen und Homosexualität angewiesen sind“, nicht so jedoch Freundinnenschaften, denen der Einschluss von Frauen zwangsläufig innewohnt und denen Homosexualität keineswegs fremd sein muss. Eingewandt werden könnte hier, dass damit implizit die Möglichkeit und Realität homosexuell konnotierter Freundschaften zwischen Männern beziehungsweise Männerfreundschaften negiert wird. Jedenfalls „hinterfragt“ Freundinnenschaft Leyrer zufolge „die Unterscheidung von Freundschaft, Liebe und Sexualität und weitet den Blick auf vielfältige Beziehungsformen“.

Ähnlich wie in der Analyse der Beziehung Andreas-Salomés zu von Bülow zieht Leyrer auch zur Untersuchung der Freundschaft zwischen Andreas-Salomé und Key zahlreiche unveröffentlichte Briefe aus der Korrespondenz der beiden Freundinnen heran. Nicht minder wichtig wird hier jedoch auch Andreas-Salomés Aufsatzsammlung Die Erotik. Was die Briefe betrifft, widmet sich Leyrer insbesondere den „[e]rotisierte[n] Szenen“, die in den Schreiben „keine Seltenheit“ seien. Vielmehr sei der Briefwechsel von einem „zärtlich neckende[n] Ton, freche[n] Anspielungen, Liebesbekenntnisse[n] und sehnsüchtige[n] Zärtlichkeitsbeweise[n]“ durchzogen. Zwar habe damit ein gewisser „‚erotischer Affekt’ zwischen den Freundinnen eine Rolle spielt“. Dies jedoch, „[o]hne“ dass „von einer erotischen Beziehung“ zwischen ihnen die Rede sein könne.

Der dritte Abschnitt des Buches will am Beispiel der Beziehung zwischen Andreas-Salomé und Anna Freud einen weiteren Unterschied zwischen Freundschaften unter Männern einerseits und denjenigen zwischen Frauen andererseits herausarbeiten. In ihrer Analyse der Freundschaft der beiden Frauen konzentriert sich die Autorin auf „das familiäre Erbe von Freundschaft“ um 1900. Da die Familie „patriarchal organisiert“ und „das Politische einer brüderlich-lateralen Ordnung unterstellt“ war (und sicher auch heute noch ist), springe eine „Leerstelle“ ins Auge. Es fehle „die Frau, spezifischer: die Schwester“. Diese stehe am „abgründige[n] Rand einer familiär verfassten politischen Ordnung“ und habe auch „im familiären Unbewussten der Psychoanalyse keinen Platz“. Hinzukomme, dass „der Freund ein Bruder ist, und etymologisch die familiäre Herkunft sowie demokratisch die familiäre Gegenwart der Freundschaft in der Brüderlichkeit liegt“. Daher lasse sich „die Freundin-Schwester gerade als ‚Unfamiliäres’ fassen“.

Einschlägige Stellen im Briefwechsel zwischen Andreas-Salomé und Anna Freud sowie eine Lektüre von Judith Butlers Antigone-Buch veranlassen Leyrer, die Korrespondentinnen Andreas-Salomé und Anna Freud „als Schwestern [zu] bezeichnen“. Das ist natürlich möglich, doch gibt der Briefwechsel nicht weniger Anlass dazu, ihr Verhältnis als das zwischen einer (Vater-)Tochter und ihrer mütterlichen Freundin zu sehen.

Bei Andreas-Salomé, lautet Leyrers Fazit, „[steht] das Leben […] für den Begriff Freundin ein“. In den Beziehungen zwischen Freundinnen gehe es zudem nicht um Gleichheit, sondern um Differenz. Auch fordere sie „die Grenzziehung zwischen Freundschaft, Liebe und Sexualität heraus“ und rücke „Zärtlichkeit und Mütterlichkeit ins Zentrum“. Zugleich lasse sich die Beziehung der schwesterlichen Freundschaft „am Rand vertrauter Ordnungen denken“. Denn die Schwester stehe „an der Grenze von Familiärem und Unfamiliären“. „[W]as zwischen Frauen passiert“, sei mithin „die interessanteste Sache der Welt“.

Ohne mit Leyrers Befunden im Einzelnen d’accord gehen zu müssen, kann doch gesagt werden, dass sie einen nicht unwichtigen Beitrag zum bislang wenig erforschten Thema der Freundinnenschaft geleistet hat. Für die Andreas-Salomé-Forschung dürfte der Frieda von Bülow gewidmete Teil am fruchtbarsten sein.

Titelbild

Anna Leyrer: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
247 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339866

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch