Ein Altersporträt als vielfarbige Collage
Brigitte Prutti befragt in „Franz Grillparzer. Porträts des Dichters als alter Mann“ Grillparzers Zeitgenossen
Von Karin S. Wozonig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBrigitte Prutti kennt Franz Grillparzer gut. Sie hat sich in früheren Publikationen unter anderem mit der Modernität und der Selbstdarstellung des österreichischen Klassikers mit Biedermeier-Image befasst. Nun also geht es um den Dichter als alten Mann. Und da stellt sich heraus: Mit den Lebensjahren allein lässt sich der Gegenstand des Interesses nicht definieren. Und so stellt Prutti grundsätzliche Betrachtungen zum Zusammenhang von Alter, Werk und Ruhm im 19. Jahrhundert an den Anfang, aus denen deutlich wird: Grillparzer ist anders.
Als Basis für ihre essayistischen Erkundungen dienen Prutti die „verbalen Dichterporträts des alten Grillparzer aus der Feder von Frauen, Freunden und Protegés“ (9), und da kann sie aus dem Vollen schöpfen. Denn Grillparzer wurde zu Lebzeiten von seinen Zeitgenossen zwar erst einmal gründlich vergessen, dann aber noch gründlicher wiederentdeckt; gerade noch rechtzeitig, um von dem großen Dichter, der 1872 mit 81 Jahren starb, noch persönlich profitieren zu können.
Prutti bedient sich in ihrer Annäherung der Kontrastfigur des alten Goethe, der in einer Arbeitsgemeinschaft mit Johann Peter Eckermann bis zum Schluss am Weiterleben seines literarischen Ruhms werkte. Grillparzer dagegen tat jahrzehntelang jeden Versuch, seine Werke neu oder gesammelt herauszugeben, ab. Zwar verbat er sich die Veröffentlichung der literarischen Brosamen, die buchstäblich an seinem Kaffeetisch abfielen, nicht direkt. Zur Mehrung, Verfestigung und Dauer seines Ruhmes trug er jedoch nichts bei. „Bartleby als österreichischer Genius“, resümiert Prutti (178).
So verdankt sich Grillparzers Altersruhm auch nicht einem literarischen Alterswerk; dass er ihn aber besaß, ist an dem emsig von August Sauer zwischen 1904 und 1916 zusammengetragenen Gesprächen und Charakteristiken abzulesen. Deren positivistischer Anlage und Motivation widmet Prutti das Unterkapitel August Sauer: Alles über Grillparzer (52-60).
Der „Boom an Gesprächs- und Erinnerungsliteratur“ (30), der nach Grillparzers Tod einsetzte, brachte eine Materialfülle hervor, die Prutti sichtet, strukturiert und zu zehn Einzelbildern ordnet. Zeuginnen und Zeugen für die Darstellung sind unter anderem die in ihrem Formwillen, ihrer kritischen Scharfsicht aber auch in ihrem egoistischen Grießgram seelenverwandte Lyrikerin und Rezensentin Betty Paoli (1814–1894), die Schriftstellerin und Salonière Auguste von Littrow-Bischoff (1819–1890), der ehemalige Burgtheaterdirektor und postume Grillparzer-Herausgeber Heinrich Laube (1806–1884) und die große österreichische Erzählerin und Menschenkennerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916). So unterschiedlich die Stimmen über den alten Grillparzer, so facettenreich ist das Bild, das sie geben – einerseits. Andererseits gibt es auch auffallende Übereinstimmungen und wortgleiche Zitate in den Berichten, woraus auch Wiederholungen und Redundanzen in Pruttis Text folgen. Durch ausgiebiges Zitieren ihrer Quellen stellt Prutti Grillparzer unter anderem in seiner Häuslichkeit bei den Schwestern Fröhlich, als Kranken und als Geistreichen vor, sie beleuchtet den schwierigen Charakter aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Kein Grillparzer-Bild kommt ohne die Kulisse seines Zimmers aus, denn dorthin mussten sich die Zeugen seiner geistreichen, belesenen, mieselsüchtigen Existenz begeben, wollten sie über den zurückgezogen Lebenden berichten. Und so ist das „Wohn-, Schlaf, Lese- und Musikzimmer“ in der Spiegelgasse (sein Originalinterieur harrt zur Zeit seiner dritten musealen Präsentation, im neuen Wienmuseum) „erstaunlich öffentlich und leicht zugänglich für seine Besucher“ (88).
Offen ist Grillparzer auch hinsichtlich seines Gesundheitszustands. Übereinstimmend berichten Pruttis Gewährsleute von der Klage über diverse Alterserscheinungen, Gebrechlichkeiten und Beeinträchtigungen – und davon, dass da auch viel Übertreibung dabei gewesen sein dürfte. Grillparzer war ein Hypochonder, einer, der mit fünfzig über den körperlichen Verfall jammerte, der sein Befinden wichtig nahm. Und gleichzeitig war er liebenswürdig und charmant, ein „Gesprächskünstler“ mit Charisma, ein „Meister des Understatements und der eigenen Herabsetzungskomik“ (120), die den Effekt hatte, dass seine bezauberten Gesprächspartner(innen) ihn erhöhten. Adalbert Stifter war einer jener Grillparzer-Bewunderer, die es gern gesehen hätten, wenn seine Werke gedruckt würden, auch die neuen Datums. Aber sein Misserfolg aus dem Jahr 1838 mit dem vom Publikum völlig falsch verstandenen Lustspiel Weh dem, der lügt hatte Grillparzer so nachhaltig gekränkt, dass davon keine Rede sein konnte.
Unter den zehn „Charakteren“, oder eher Charakterfacetten, die Prutti anbietet, ist auch der erotisch affizierte Grillparzer; das ist ein Bereich, zu dem vom Dichter selbst wie von seiner Umgebung kaum Aufschluss zu erwarten war. Aber wenn Ludwig August Frankl – wegen seiner diesbezüglichen Umtriebigkeit von den Zeitgenossen als „Denkmal-Frankl“ verspottet – der ehemaligen Verlobten Katharina Fröhlich am Sarg des Dichters die Worte in dem Mund legt: „Einen anderen Kuß, als den der Freundschaft, haben wir uns nie gegeben“ (zit. 162), so zeigt das, welches Bild von Grillparzers Liebesleben die Nachwelt im Zuge der Klassikerschöpfung gern gehabt hätte. Über die unendliche Geduld, mit der die Schwestern Fröhlich die Launen und seelischen Grausamkeiten ihres Mitbewohners ertragen haben, schreibt Marie von Ebner-Eschenbach in ihren Erinnerungen, und überhaupt ist ihr Text eine lesenswerte und erhellende Würdigung dieser Wahlverwandtschaft.
Pruttis Essay ist in seinem collageartigen Aufbau mit vielen Quellenzitaten und Schlaglichtern auf das Dichterleben eine Korrektur des Bildes vom immer schon alten und ewig biedermeierlichen Grillparzer, das seinen Zweck, einen identitätsstiftenden österreichischen Klassiker zu konstruieren, längst erfüllt hat. Wenn auch nicht jede Folie, die Prutti aufspannt, um Grillparzers Porträt plastisch hervorzuheben, gleich überzeugend ist und der Vergleich mit dem alten Goethe und seinem Eckermann zu sehr strapaziert wird, ist dieses Buch doch ein willkommenes Zeichen, dass ein neuer interessierter Blick auf den Dichter möglich ist, ein Blick, der zur Beschäftigung mit Grillparzers epochalem literarischen Werk in seiner ganzen Breite animiert.
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