Bedrückendes Triptychon
Mit „Zum Paradies“ gelingt Hanya Yanagihara der Roman zu unserer seltsamen Zeit
Von Sascha Seiler![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler](/rss/rss.gif)
Eines muss man der amerikanischen Autorin Hanya Yanagihara lassen: Sie hat mittlerweile tatsächlich einen Sprachduktus entwickelt, an dem sich ihre Werke recht schnell erkennen lassen. Es ist wohl diese besondere, zwischen Mitgefühl und kühler Härte changierende Art, über grausame Dinge zu schreiben, die bereits ihren im Grunde misslungenen Weltbestseller Ein wenig Leben geprägt hat. Hier hat sie es so weit getrieben mit detaillierten Beschreibungen sexualisierter Gewalt, dass man nicht umhin kam, den großen Erfolg des Buches auch zu einem großen Anteil dem Voyeurismus der Leser*innen zuzuschreiben. Erschwerend kam hinzu, dass sie im Laufe des überlangen Romans das Schicksal der einen oder anderen Figur einfach aus den Augen verloren hat.
Im international sehnlichst erwarteten Nachfolgeromen, ihrem dritten insgesamt, macht sie es sich daher etwas einfacher, um den Plot des mit über 800 Seiten ebenso langen Buchs zusammenzuhalten: Sie schreibt einfach drei verschiedene Romane mit verwobenen Motiven und bindet sie zusammen. Was im ersten Moment etwas ermüdend wirkt, ist gar nicht mal so ungeschickt. Der erste Teil von Zum Paradies spielt in einem fiktiven New York am Ende des 19. Jahrhunderts. Der zweite Teil ist 100 Jahre später angesiedelt und spielt zur Hälfte in New York, zur Hälfte in Hawaii. Und der dritte Teil, der gut die Hälfte des Gesamtvolumens einnimmt, in einem dystopischen New York in der zweiten Hälfte des 21 Jahrhundert. Gemein ist diesen drei Teilen ein herrschaftliches Haus am Washington Square, die sich stetig wiederholenden Namen der Protagonist*innen sowie ihre Homosexualität. Und die dem Roman seinen Titel gebende Grundthematik, dass sich jeder Mensch gegen die Widerstände der Welt sein eigenes Paradies sucht, wobei jeweils in fast schon sadistischer Art und Weise offengelassen wird, ob man dieses auch findet.
Vor allem aber ist Zum Paradies der erste große Corona-Roman, auch wenn die Autorin dies anders sehen mag, wie sie in einem Interview jüngst klarstellte.
In Teil Eins befinden wir uns in den so genannten Freistaaten der amerikanischen Ostküste. Die ersten Kapitel sorgen für Verwunderung, weil Yanagihara klug genug ist, ihre Karten nicht sofort auf den Tisch zu legen. Doch scheinbar ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass Männer mit Männern und Frauen mit Frauen verheiratet sind und adoptierte Kinder großziehen. Tatsächlich begegnet einem zunächst kein einziges heterosexuelles Paar. Im Laufe der Handlung klärt sich auf, dass die USA – erster Verweis auf die Gegenwart – tief gespalten sind, und zwar auch geopolitisch: Es gibt mehrere unabhängige Staaten, darunter den homophoben, absolutistischen, armen Süden und den aufgeklärten, reichen Nordosten, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe nicht nur toleriert, sondern in der Aristokratie zum guten Ton gehört. Doch – zweiter Verweis auf die Gegenwart – es ist nicht alles Gold, was glänzt, denn auch die Freistaaten sind zutiefst rassistisch (auch wenn sie es, anders als der Süden, nicht offen aussprechen) und vor allem von Standesdünkeln geprägt. Als nämlich der Protagonist Thomas, der aus der reichsten Familie der Stadt New York stammt, nicht den ihm vermittelten Kavalier ehelichen möchte, sondern den mittellosen Klavierlehrer Edward, einen Flüchtling aus dem Süden, wird er verstoßen. Doch der Künstler zeigt sich gleichzeitig als dubioser Zeitgenosse. Als er Thomas auffordert, mit ihm ins wilde Kalifornien zu ziehen, bleibt am Ende offen, ob Thomas ausgeraubt und getötet oder mit der wahren Liebe erfüllt wird.
Während der erste Teil recht gelungen, wenn auch etwas langatmig geraten ist, muss der zweite Teil, der in einem von AIDS heimgesuchten New York der frühen 90er Jahre spielt, als völlig missglückt bezeichnet werden. Das Ensemble taucht mit leicht vertauschten Rollen wieder auf, aber auch hier ist Edward wieder der zwielichtige Verführer, dieses Mal in Gestalt eines nationalistischen Hawaiianers, der sich mithilfe eines leicht zu manipulierenden Freundes (der wiederum, es ist verworren, der Vater des Hauptprotagonisten dieses Teils ist, der in einer Abhängigkeitsbeziehung zu einem älteren, reichen Mann steht) ein Königreich aufbaut, das sich jedoch als reine Wahnvorstellung entpuppt. In diesem Kapitel spielen Rassismus, Identität, Abhängigkeit und der Preis von Freundschaft eine zentrale Rolle, aber irgendwie kommt das alles nicht so zusammen.
So ist man froh, als der dritte Teil beginnt, der in den 90er Jahren des 21. Jahrhundert spielt, in einem Amerika – nächster Gegenwartsbezug – das ebenso zerstört von zahlreichen aufeinanderfolgenden, tödlichen Pandemien ist wie von der Angst vor diesen, da sie sich, so bekommt man im Laufe des klug strukturierten Kapitels mit, als fataler erweist als die Pandemien selbst. Alternierend wird aus der Gegenwart am Ende des 21. Jahrhunderts, und damit aus einer Gesellschaft, die sich nur noch in vollklimatisierten – nächster Gegenwartsbezug: Klimawandel – hermetischen Anzügen zu bestimmten Zeiten fortbewegen kann, und von den vorangegangenen Jahrzehnten erzählt, die zeigen, wie es dazu kommen konnte. Das Erschütternde dieses Kapitel, ohne zu viel verraten zu wollen, ist, wie ein diktatorischer, Orwellscher Staat geschildert wird, der aber keine bösen Absichten hegt, sondern der tatsächlich nur das Ziel verfolgt, die Gesellschaft vor den vermeintlich tödlichen Viren zu schützen, bis jedes bisschen Freiheit geopfert wurde. Yanagihara spricht es bis zum Ende nicht deutlich aus, aber die Kritik an zahlreichen Corona-Maßnahmen und die Angst vor dem Verlust der Freiheit schwingt ebenso durch dieses Kapitel wie das Eingeständnis, dass es möglicherweise keine anderen Optionen gegeben hat. Es ist, anders als der im Grunde sehr leichtfüßige, optimistische erste Teil und der eher auf teilweise selbstverschuldetes persönliches Unglück zielende zweite, eine grausame, beängstigende Dystopie, die nach dem Preis der Freiheit fragt und keine gute Antwort hat.
Schön auch, dass die in Kapitel Eins gesponnenen Fäden in Kapitel Drei wieder aufgegriffen werden. So erinnert dieser größtenteils gelungene, sogar beeindruckende Roman wenn auch nicht thematisch, so aber doch strukturell an Paul Austers grandiose New York Trilogy, in der ja auch ein nur partiell Sinn ergebender (und langweiliger) zweiter Teil zwischen zwei monumentalen, brillant miteinander verknüpften Teilen stört. Und auch wenn sich das Werk bei aller angedeuteten Komplexität letztendlich doch an eine breite Leserschaft richtet und dieser – anders als Auster – nicht allzu viel an Reflexionsfähigkeit jenseits der Plotebene abverlangt, so ist Zum Paradies dennoch ein beeindruckendes Buch über unsere immer seltsamer werdende Zeit.
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