Vor dem Twitter-Tribunal

Schweizer Zeit- und Sittengemälde: In Hansjörg Schertenleibs Roman „Offene Fenster, offene Türen“ versuchen ein Musiklehrer und eine 19-jährige Schülerin ihre Würde zurückzugewinnen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer immer das Leben von Casper Arbenz und Juliette Noirot zerstören will, versteht das Prinzip der Eskalation. Zunächst kursiert nur das Gerücht, dass der Musiklehrer mit einer Schülerin im Materialraum der Jazzschule Sex hatte. Kurz darauf wird auf Twitter ein Video hochgeladen. Es ist zwar ohne Ton und verwackelt, doch sind der verheiratete Mittfünfziger und die 19-jährige Nachwuchssängerin darauf hinreichend gut zu erkennen. Schließlich, in den sozialen Medien tobt längst der Mob der Selbstgerechten, folgt noch eine Version mit Ton. 

Wie unter Zwang muss die fassungslose Juliette das Video wieder und wieder anklicken: 

Der Film löst nicht die Bestätigung aus, die sie sich erhofft hat, sie sei zu etwas gezwungen worden, das sie nicht wollte. Was sie sieht und hört, ist eine junge Frau, die den Moment offensichtlich genießt.

Wer hat das Video aufgenommen und warum? Diese Frage ist in Hansjörg Schertenleibs neuem Roman so gleichgültig, dass sie erst zum Schluss und eher nebenbei beantwortet wird. Auch geht es dem Schweizer Autor nur bedingt um die sozialen und medialen Mechanismen, nach denen Skandale dieser Art heutzutage ablaufen. Und schon gar nicht will er Anklage erheben, auch wenn der Roman keinen Zweifel daran lässt, dass das, was geschehen ist, so nicht hätte passieren dürfen. Wie in Caspers Gespräch mit der Schulleiterin, die den Musiker umgehend suspendiert: „‚Du hast eine Machtbeziehung mit einer sexuellen Beziehung vermischt, Casper, das können wir nicht dulden.‘ ‚Machtbeziehung? Ich bin ihr Rhythmiklehrer, Julia!‘ ‚Eben!‘“ 

Schertenleib erzählt vielmehr davon, was es mit Menschen macht, die sich urplötzlich als Angeklagte vor dem Gerichtshof der enthemmten Öffentlichkeit wiederfinden. Aber auch davon, wie man seine Würde und Souveränität wiedererlangen kann. Casper Arbenz steht bald schon vor den Trümmern seiner Existenz wie seiner Ehe; die bislang so coole, selbstbewusste Juliette dagegen wird sich spätestens dann selbst fremd, als jemand „Schlampe“ an die Tür ihrer Wohngemeinschaft sprüht.

Der Roman spielt im schweizerischen Winterthur, im März 2020, also kurz vor Ausbruch der Pandemie, und ähnelt aufgrund der tageweise voranschreitenden Kapitel einer Chronik. Jeder neue Abschnitt wechselt die Perspektive, wird mal aus seiner, mal aus ihrer Sicht erzählt. Beide, Casper wie Juliette, werden auf sich selbst zurückgeworfen, sehen sich einer Flut an Schmähungen und Unterstellungen ausgesetzt, die ihr bisheriges Selbstverständnis regelrecht zersetzt. Die Entrüstungslust triumphiert in der eigenen Familie, im Freundeskreis und natürlich auf Facebook.

Das Tribunal der sozialen Medien tagt, rachsüchtig und ungerecht, wie er findet, weil es sich einseitig entweder auf Juliettes Seite oder auf seine schlägt, gierig nach Verurteilung, süchtig nach einem Opfer, einem Täter. Wer definiert ‚einvernehmliche Handlung‘ oder ‚Einwilligung‘? Hat er Juliette um ihre Einwilligung gebeten? Hat sie die Erlaubnis erteilt, dass etwas geschieht?

Zu weiteren Begegnungen zwischen dem Lehrer und der Schülerin kommt es nicht mehr, nur zu einem kurzen Telefonat, das auf beiden Seiten von Misstrauen geprägt ist. Was geschehen ist, war für beide nur ein Flirt, der aus dem Ruder lief – mögen auch die Erinnerungen daran, wer den ersten Schritt gemacht hat, differieren. Zudem muss der Mittfünfziger befürchten, von der jungen Frau unter Metoo-Vorzeichen ans Messer geliefert zu werden. Tatsächlich verlangt ihr Bruder von ihr, dass sie den Lehrer wegen Vergewaltigung anzeigt, um ihren Ruf zu retten. Nur der Leser, die Leserin weiß, wie nahe sich Casper und Juliette letztlich sind: Beide flüchten sich bald schon in glücklichere Erinnerungen und verlassen dann, unabhängig voneinander, Winterthur, bauen sich, jeder für sich, ein neues Leben auf. Räumliche Distanz als einziger noch gangbarer Ausweg: Das verbindet diese Protagonisten mit den Figuren früherer Schertenleib-Romane, die regelmäßig vor der provinziellen Enge ihrer Schweizer Heimat flohen.

So hat der 63-jährige Schweizer Autor nach Werken wie Das Regenorchester und Palast der Stille erneut einen beachtlichen, dezidiert gegenwartskritischen Roman vorgelegt, Seitenhiebe auf den Hypermoralismus der Generation Schneeflocke inklusive. Doch so sehr das Schicksal seiner Figuren berührt, sprachlich zeichnet sich Schertenleibs Schweizer Zeit- und Sittengemälde durch Licht und Schatten aus. Großartig ist seine Beschreibungslust, ob es um das Interieur von Räumen geht oder um den Rausch beim gemeinsamen Jazzen. Aber dass der Roman gefühlt zur Hälfte aus rhetorischen Fragen besteht, dämpft doch erheblich die Lesefreude.

Titelbild

Hansjörg Schertenleib: Offene Fenster, offene Türen.
Kampa Verlag, Zürich 2021.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100645

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