Was macht das Gedicht?

„Gegenwartslyrik“: Björn Hayers kundige und findige Bestandsaufnahme zeitgenössischer Lyrik

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In Spuren lesen“: Was der Koblenzer Literaturwissenschaftler Björn Hayer so treffend in seinem Sammelband über Entwürfe, Strömungen und Kontexte der Gegenwartslyrik beschreibt, gilt sowohl für das Schreiben von Gedichten wie für ihre Lektüre und Deutung. Ist das Comeback von klassischer Moderne und Barocktradition vielleicht auch gar nicht so erstaunlich, so arbeitet die Lyrik im Anthropozän, wenn sie Grenzen zwischen Natur und Kultur überschreitet, als Agentur der praktischen Vernunft. Marion Poschmanns Hinweise zur Erderwärmung (2016) sehen die „wilde Natur“ am „Rande der Haushaltsgegenstände“, Silke Scheuermanns und Ulrike Draesners Vogelgedichte über den Dodo behandeln das Artensterben, José F.A. Olivers Gedichte beleuchten die Frage, wem die deutsche Sprache als Migrationsprodukt gehört, Uwe Kolbes Gedicht Form (2015) zeugt vom Bewusstsein seiner ästhetischen Potenzialität.

Gedichte sind also wie „Glutnester“ (Helmut Krausser, 2021). Beim Schreiben gibt ihnen der Dichter Feuer, „bis sie heller leuchten“, und er fängt dann auch selbst Feuer, wird Fackel und kann mit dem Feuer spielen, etwa wenn er sich fragt, ob er auf „Heimat“ einen „Reim hat“ und den „Zufriedenhai“ vom „Leidenschaf“ vertreiben lassen soll.

Die einzelnen Beiträge untersuchen lunares Barock und proteische Bilder bei Thomas Kling (Antje Schmidt), die Allianz von Formreflexion und Zeitkritik im Gegenwartsgedicht (Natalie Moser), das Hintergrundrauschen der Geschichte in Jan Wagners Lyrik (Henning Heske), die Bindung der anthropozänen Poetik an Batailles Konzept der „connaissance émotionelle“ in Yevgeniy Breygers Gedichten (Joscha Klüppel), den Film als realitätssondierendes Ausdrucksmittel in der Lyrik und die mitdenkende Grammatik in Monika Rincks Gedichten (Francesca Pistocchi) und den traditionell gut vernetzten, aber an Lyrikbühnen armen Literaturbetrieb in Österreich (Rebecca Heinrich und Siljarosa Schletterer).

Überaus innovativ ist der Beitrag von Maurizio Basili. Er stellt Rupi Kaur als erste Instapoetin vor. Die indisch-kanadische Autorin postet seit neun Jahren illustrierte Poesie auf sozialen Medien und bekommt Likes in sechs- bis siebenstelliger Höhe; das hebelt die „Enzensbergersche Konstante“ aus, der zufolge es geschätzt 1354 Menschen gibt, die einen einigermaßen anspruchsvollen Lyrikband, egal in welchem Kulturkreis, zur Hand nehmen. Die Insta-Szene, die aus der englischsprachigen Welt auch in Deutschland angekommen ist, setzt auf Alltagsnähe, Mainstreamthemen und eingängige, manchmal in der Kleinschreibung grammatisch reduzierte Sprache. Sie führt in einem neuen Medium die Lyriklinie kommunikativer Gebrauchslyrik fort und spiegelt dabei zugleich die kritischen Folgen des Mediengebrauchs in Krisenzeiten, wie der während des ersten Pandemieherbstes entstandene Post von Max Richard Leßmann auf Instagram vom 30.10.2020: 

Manchmal scheinen wir zu vergessen
wie leicht wir
vorm Bildschirm verkümmern
vielleicht kann ein Lockdown ja helfen
uns wieder daran zu erinnern
auch dabei zu hinterfragen
was für ein Leben wir führen
ich möchte, wenn all das vorbei ist
mehr Menschen
als Touchscreen berühren

Titelbild

Björn Hayer (Hg.): Gegenwartslyrik. Entwürfe - Strömungen - Kontexte.
Büchner-Verlag, Marburg 2021.
244 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783963172816

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