Im bunten Garten der Dichtkunst
Zu Günter de Bruyns und Gerhard Wolfs Projekt einer ‚anderen‘ deutschen Literaturgeschichte
Von Sophia Wege
In den 1980er Jahren, der Endphase der DDR, gaben Günter de Bruyn und Gerhard Wolf die erfolgreiche Buchreihe Märkischer Dichtergarten heraus. Deren Programm bestand darin, einer breiten Öffentlichkeit die Werke von zu Unrecht vergessenen und von der ideologisierten DDR-Germanistik geschmähten Dichter:innen zugänglich zu machen. Die von Alexander Košenina herausgegebene Aufsatzsammlung Günter de Bruyn und die märkische Dichtung (2022) widmet sich nun diesem bedeutenden Projekt einer alternativen Literaturgeschichtsschreibung und schließt damit eine Lücke in der Forschung zu Günter de Bruyn, dessen Verhältnis zu Brandenburg und zur Geschichte der DDR-Literaturgeschichtsschreibung insgesamt. Gleichzeitig lädt der Sammelband dazu ein, von de Bruyn und Wolf hochgeschätzte Autor:innen wiederzuentdecken, deren Namen gegenwärtig nur Spezialisten und Liebhabern vertraut sein dürften – darunter Anna Louisa Karsch, eine populäre Poetin der Aufklärungszeit, deren 300. Geburtstag im Jahr 2022 gefeiert wurde, und der von Goethe bespöttelte und von Fontane verehrte Landschaftsdichter Schmidt von Werneuchen.
Günter de Bruyn (1926-2020) war nicht nur einer der bedeutendsten Romanciers der DDR, er widmete sich in einer Vielzahl erzählender Sachbücher auch der Geschichte der Mark Brandenburg und Preußens, dem Zauber märkischer Landschaften zwischen Sand und Sumpf und den Biographien ihrer Bewohner:innen. Das von Fontanes Wanderungen inspirierte lebenslange Interesse de Bruyns an der Region und ihrer Natur bildete den Ausgangspunkt für das gemeinsam mit Gerhard Wolf initiierte Editionsprojekt eines Märkischen Dichtergartens, dessen programmatischer Anspruch allerdings weit über die Pflege regionalliterarischer Tradition hinausreichte. Ziel war, im Umgang mit dem Kulturerbe der DDR neue und alternative Akzente zu setzen, welche die parteipolitisch motivierten Leitlinien der DDR-Germanistik – die als geschichtlich fortschrittlich angesehene Denkmuster der Aufklärung und der Weimarer Klassik präferierten – überschritten. De Bruyn und Wolf dagegen verfolgten das, was eine Forschergruppe aktuell als Breiten Kanon bezeichnet – sie wollten den lesehungrigen DDR-Bürger:innen ein entideologisiertes Lektüreangebot unterbreiten, das neben staatlicherseits als konform eingeschätzten Dichtern wie Lessing auch Außenseiter und Sonderlinge, adlige und konservative Autor:innen, weitgehend unbekannte Märker und Preußen, ‚spätbürgerliche‘ dekadente Dichter:innen einschloss. Die Auswahl mag zwar keiner einheitlichen Logik folgen, und stellt – wie Košenina vermerkt – somit keinen konsistenten Gegenkanon dar, wohl aber lässt sich der Anspruch erkennen, zumindest punktuell den Blick der DDR-Leser auf den Reichtum literarischer Welten jenseits des Opportunen, Normierten und Konventionellen zu lenken.
Der Großteil der Beiträge befasst sich mit den in der Dichtergarten-Reihe erschienen Autor:innen und Werken sowie mit de Bruyns und Wolfs editorischer Tätigkeit; einige Texte sind de Bruyns Verhältnis zur Mark Brandenburg und zu Preußen gewidmet.
Im einleitenden Aufsatz stellt Annika Hildebrandt die von Gerhard Wolf verantwortete Ausgabe an Gedichten und Briefen von Anna Louisa Karsch (1722-1792) mit dem Titel O, mir entwischt nicht, was die Menschen fühlen vor. Die aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Karsch gilt heute als eine der außergewöhnlichsten Dichter:innen der Aufklärungsepoche. Das Gleimhaus in Halberstadt – ein überregional bedeutsames Literaturmuseum und renommierte Stätte für Aufklärungsforschung – präsentiert anlässlich des 300. Geburtstags der ‚deutschen Sappho‘ noch bis April 2023 eine Ausstellung zum wechselvollen Leben und zum Schaffen der Poetin. Dass das Werk der „Karschin“ heute wissenschaftlich gewürdigt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird, geht laut Hildebrandt mit der Karsch-Neuherausgabe im Dichtergarten einher. Dabei passte die Schlesierin, die erst spät nach Berlin kam und dort in Salons Furore machte, auf den ersten Blick nur bedingt zu de Bruyns und Wolfs märkisch verortetem Projekt. Dass sie Aufnahme in die Buchreihe fand, lässt sich vor allem auf die literaturhistorisch-kritische Motivation der Herausgeber zurückführen: Im Grunde hätte die Rinderhirtin Karsch als Vorbild für schreibende Arbeiter:innen im sozialistischen Realismus herhalten müssen. Dass sie es ungeachtet ihrer proletarischen Herkunft nicht in den Kanon des Arbeiter- und Bauernstaats schaffte, hängt damit zusammen, dass ihre Adelsaffinität und ihre panegyrische Poesie nicht zum Klassenbewusstsein und ins teleologische Literaturgeschichtsmodell der DDR-Germanistik zu passen schien. Diese fußte auf dem Narrativ einer als einheitlich und fortschrittlich begriffenen Epoche der Aufklärung, welche – im Gegensatz zur als reaktionär verunglimpften Romantik – den Weg zum sozialistischen Fortschritt geebnet habe. Die Aufnahme der Karschin in die Reihe war, wie die Situiertheit des Dichtergarten-Projekts im Literaturbetrieb der DDR insgesamt, durchaus kulturpolitischer Natur. Ziel der Herausgeber war eine kritische Differenzierung, wenn nicht gar Revision der staatstreuen Literaturgeschichtsschreibung einschließlich ihres ideologisch verzerrten Bildes der Aufklärung. Man wollte die wahren Literaturschätze glänzen lassen und zugleich der Monokultur ideologisch motivierter Halbwahrheiten der staatsgelenkten Germanistik und der Verlagspolitik eine autonome Literaturlandschaft entgegensetzen. Hildebrandt hebt jedoch hervor, dass die Karschin auch wegen ihres Menschenverstandes, ihrer vielfach anrührend und echt wirkenden Poesie sowie wegen ihrer realitätsbezogenen Sprache in die Reihe aufgenommen wurde. Eine solche individualisierte Realitätsauffassung stand im Widerspruch zur Realität beschönigenden Dichtkunst des Sozialismus, wobei Wolf im Nachwort keineswegs nur das sprachliche Können der Poetin würdigte, sondern auch handwerkliche Mängel benannte. Die Karschin sei zudem aufgrund ihrer sozialen Außenseiterstellung in die Reihe aufgenommen worden – nach Ansicht von Wolf und de Bruyn zeigte sich im Schaffen der Dichterin der Preis für die Anpassung an gesellschaftliche Konventionen, nämlich der Verlust von Wahrhaftigkeit. Es bleibt zu ergänzen, dass die Parallele zwischen dem Dichterinnenschicksal der Aufklärungszeit und einer angepassten Schriftstellerexistenz in der DDR von Wolf im Nachwort zwar angelegt, allerdings nicht offen ausgesprochen wird. Auf die eigene geschichtliche Situation gemünzte Bezüge mussten von den Leser:innen der Nachworte selbst hergestellt werden – darin hatte man Übung, denn dieses Versteckspiel war das Rezeptionsprinzip halbangepasster beziehungsweise halboppositioneller DDR-Dichter:innen. Damit ist die Praxis einer alternativen Literaturgeschichtsschreibung im Dichtergarten – repräsentativ hierfür die sympathisierende Deutung der Karschin als angepasster Hofdichterin – einerseits als Revision und Rebellion zu verstehen, andererseits aber als Anpassung an kulturpolitische Vorgaben, denn ansonsten wäre der Dichtergarten wohl der Zensur zum Opfer gefallen.
Christoph Willmitzer zeigt in seinem Beitrag, dass nicht nur Fontane, sondern auch der heute weitestgehend vergessene Ewald von Kleist für de Bruyn als literarisches Echo seiner Liebe zum Märkischen fungierte. Der 1982 herausgegebene Band Ihn foltert Schwermut, weil er lebt versammelt sämtliche Werke des Lyrikers der Aufklärungszeit (1715-1759). Die von Gerhard Wolf verantwortete Edition ist bis heute die aktuellste Leseausgabe; insofern harrt das Werk des Autors nach wie vor der Wiederentdeckung durch ein breites Publikum und ebenso einer vertieften wissenschaftlichen Erschließung. Beziehungen zwischen Ewald von Kleist und de Bruyn sieht Willmitzer hinsichtlich einer geteilten Liebe zur märkischen Landschaft. Als weiterer, allerdings nur mittelbarer Berührungspunkt zwischen Kleist und de Bruyn entpuppt sich die Adelsfamilie von Finckenstein, mit der sich de Bruyn mehrfach beschäftigte: In den Dichtergarten wurde neben Kleist auch ein Band mit Briefen zwischen Rahel Levins und Friedrich Ludwig Karl Graf von Finckenstein aufgenommen (2001). Von Finckenstein verehrte Kleist so sehr, dass er 1804 eine Ausgabe von dessen Gedichtsammlung Der Frühling (1749) besorgte und sich bei der Gestaltung seines Schlossgartens in Alt Madlitz von dessen Lobpreisungen der lieblichen märkischen Natur inspirieren ließ.
Unerlässlich zum Verständnis der historischen Einordnung des Dichtergartens ist der Beitrag von Uwe Hentschel zur Edition ausgewählter Texte von Friedrich de la Motte Fouqué, die unter dem Titel Ritter und Geister erschien, zumal diese auch die von de Bruyn besonders geliebte Märchenerzählung Undine enthält. Wie mehrere andere Beiträge im Sammelband situiert auch Hentschel die Neuausgabe literaturhistorisch im Umfeld der krisenbedingten Renaissance der Romantik unter DDR-Literaten. Hentschel orientiert sich bei seiner Einschätzung im Wesentlichen an de Bruyns eigener Deutung: Fouqué sei für de Bruyn vor allem als rückwärtsgewandter Don Quichotte von Interesse gewesen, gewissermaßen als willkommener Anachronismus; somit habe die Funktion des Bandes in der Reihe darin bestanden, das kulturhistorische Leitbild der DDR zu unterminieren. Hentschel lässt hier die Gelegenheit verstreichen, die Zwiespältigkeit der Romantik-Phase in der Geschichte der DDR-Literatur zu reflektieren, dabei scheint de Bruyns resignative Distanz zur sozialistischen Wirklichkeit via Fouqué repräsentativ für die historische Wirkung solcher Ausweich- oder Rückzugsmanöver: Wolf Biermann hatte die sozialistische Wirklichkeit offen besungen und war dafür 1976 ausgebürgert worden. Um bei der Garten-Metapher zu bleiben und es etwas überspitzt zu formulieren: Mit ihrer Hinwendung zur Romantik verließen die Schriftsteller das umzäunte Gelände nicht, aber stießen die Gartentür weit auf und pflanzten blaue Blumen. Gleichzeitig darf man die Faszination für die Romantik selbstverständlich nicht auf eine politische Dimension reduzieren: Was de Bruyns Vorliebe für das Wasserwesen Undine betrifft, so führt Hentschel dieses auf den Zauber des naturhaft Elementaren als Wesenskern des Weiblichen zurück. Diese psychologische, vermutlich auch persönlich-biographisch verankerte Selbst- und Fremddeutung solle und dürfe für sich stehen. Hentschels Bemerkung ist deshalb wichtig, weil sowohl die Frauenfigur mit ihrem Begehren und ihren seelischen Untiefen – wie auch de Bruyns apolitisches Interesse an der Figur – einen Kontrapunkt zu den ansonsten dominant politisierten und sozialhistorischen Kontextualisierungen des Dichtergartens bilden.
1886 erschien im Dichtergarten eine Auswahl von Werken E.T. A. Hoffmanns unter dem Titel Gespenster in der Friedrichstadt. Die fundierteste literaturhistorische Einordung der Romantik-Phase von DDR-Autor:innen findet sich in Barry Murnanes Aufsatz zu diesem Band. Ausführlich schildert Murnane die Rezeption romantischer Schauergeschichten sowie ihrer Geister und Elemente in der Tradition E.T.A Hoffmanns bei Fontane, Heiner Müller und abschließend auch bei de Bruyn. Die Nachworte zu Fouqué, Tieck und Hoffmann beurteilt Murnane als sorgfältig recherchiert, präzise und fundiert, doch da er nur das Nachwort zu Hoffmann genauer unter die Lupe nimmt, erscheint die sehr positive Gesamteinschätzung der Leistungen de Bruyns dünn begründet. Zuzustimmen ist Murnanes Einschätzung sicherlich dahingehend, dass im Nachwort zu Hoffmann auf Heldenverehrung verzichtet wurde und sich das Interesse de Bruyns auch auf das private Umfeld gerichtet habe. Damit stärkt Murnanes Aufsatz die Einsicht, dass das Dichtergarten-Projekt nicht nur literaturpolitischer Natur war. Der Vergleich von Müllers radikalem Germania-Projekt mit de Bruyns eher subtilen Versuchen, das preußische Kulturerbe um Schauergestalten zu erweitern, erweist sich allerdings als nur mäßig ergiebig. Der vergleichsweise umfangreiche Abschnitt zur Spukmotivik bei Fontane fällt oberflächlich aus; der Spuk wird hier auf seine politische Dimension reduziert, was zwar zu de Bruyn passt, der Mehrdeutigkeit des Spukgeschehens bei Fontane aber nicht gerecht wird und dem Stand der Forschung zu diesem Werkaspekt hinterherhinkt. Murnanes abschließende Deutung, wonach de Bruyn sich für die leidvolle „Psychogeographie“ brandenburgischer Autor:innen interessiert habe, wird bedauerlicherweise kaum belegt. Der Aufsatz reißt viele interessante Aspekte an, allerdings wäre eine vertiefte Betrachtung einzelner Aspekte insgesamt gewinnbringender gewesen.
Jürgen Overhoff skizziert in seinem Beitrag de Bruyns früh einsetzendes Interesse an Friedrich dem Großen und den friderizianischen Kriegen, und zwar als Teil von de Bruyns lebenslanger intensiver Beschäftigung mit preußischer Geschichte, die sich erst nach der Wende in Veröffentlichungen niederschlug. Deutlich wird, dass das Interesse des DDR-Schriftstellers am kulturellen Erbe der Mark Brandenburg nicht von preußischer Adelsgeschichte zu trennen ist – und beides teilte de Bruyn mit Fontane. Friedrichs dilettantische Lyrik und auch dessen Essay De la littérature Allemande (im Übrigen das Thema von Erich Kästners Dissertation), waren zwar nicht in den Dichtergarten aufgenommen worden, dennoch rechtfertigt de Bruyns nicht unkritische, aber erstaunlich unverhohlene Faszination für den preußischen Monarchen einen Beitrag in dieser Aufsatzsammlung. De Bruyn sah Friedrich primär als Aufklärer und Förderer der Wissenschaften und Künste. Overhoff deutet dessen gewissermaßen einäugige Begeisterung für Preußenhistorie als Flucht vor „öde[r] ostdeutscher Wirklichkeit“ und zugleich als provozierende Absetzbewegung von der Adelsfeindlichkeit der DDR. Die despotische Willkürherrschaft des absolutistischen Herrschers tritt in de Bruyns Wahrnehmung in den Hintergrund, was einiger weiterführender Betrachtungen zur Geschichtsdeutung von de Bruyn wert gewesen wäre.
Peter Sprengels Aufsatz zu Karl August Varnhagen von Enses in Teilen unveröffentlichten Reiseblättern nimmt innerhalb der Aufsatzsammlung eine Sonderstellung ein: Es handelt sich hierbei eher um einen psychologisch wie auch im Hinblick auf Geschlechterfragen einfühlsamen Forschungsbericht zu Varnhagens Reiseerlebnissen in Sachsen und vor allem zum Verhältnis des jugendlichen Varnhagen zur vierzehn Jahre älteren, verehrten Rahel Levin, seiner späteren Gattin. De Bruyns Neuausgabe von Levins Briefwechsel mit ihrer ersten Liebe Karl Graf von Finckenstein findet in dem Forschungsbeitrag nur auf den allerletzten Seiten Erwähnung. Gleichwohl lohnen allein die von Sprengel ausführlich zitierten Reisebeschreibungen Varnhagens, die darin enthaltenen Lobpreisungen der singenden sächsischen Mundart und der freundlichen Wohlerzogenheit des Sachsenvolks, welche sich von der verdrießlichen Gleichgültigkeit der Preußen aufs angenehmste unterscheide.
Auch Tilman Spreckelsens Beitrag zu Gräfin Elisa. Eine Lebens- und Liebesgeschichte (2012) bildet einen Sonderfall innerhalb der Aufsatzsammlung, da es sich um eine erzählende Biographie handelt, die Spreckelsen vornehmlich von de Bruyns Biographie her beleuchtet und mit anderen Preußen-Projekten des Autors vergleicht. Spreckelsen geht der Frage nach, was de Bruyn an der Lebensgeschichte der Gräfin Elisa von Ahlefeldt fasziniert haben könnte. Offenkundig ging es ihm einerseits um eine spannende Ehegeschichte, die allerdings bereits Ludmilla von Assing in einer verdienstvollen Biographie geschildert habe: Wegen ihres Verhältnisses mit Karl Immermann hatte sich die Gräfin von ihren Ehemann Adolph von Lützow scheiden lassen, wurde dann aber später selbst von Immermann verlassen. Spreckelsen kann zeigen, dass sich de Bruyn nicht vornehmlich am Faktischen orientierte, sondern subjektiv, selektiv und parteilich erzählt, und seine Darstellung dieses Frauenlebens stark emotional gefärbt ist – was Spreckelsen de Bruyn freilich nicht zum Vorwurf macht. Gerade jener Grenzbereich zwischen historisch Faktischem und Fiktionalisierung, in dem sich de Bruyns „Frauendienst“ an Elisa erst entfalten kann, ist gegenwärtig stark in Mode. De Bruyns erzählende Sachbücher – die nahezu vollständig nach der Wende erschienen – harren hinsichtlich dieser attraktiven Eigenschaften weiterer, dezidiert narratologischer Untersuchungen.
Alexander Košenina bespricht in seinem Beitrag das von de Bruyn verfasste Nachwort zum Roman Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. von Christoph Friedrich Nicolai, sowie eingehend auch de Bruyns Kommentare zu weiteren der Ausgabe beigefügten Schriften Nicolais, darunter auch die berühmte Werther-Parodie (1982). Der Aufsatz des Aufklärungsforschers Košenina sticht insofern heraus, als darin respektvoll fragend, aber dennoch unmissverständlich die aus heutiger Sicht der Aufklärungsforschung gravierenden wissenschaftlichen Schwächen, Lücken und Grenzen der Nicolai-Edition im Dichtergarten offengelegt werden. Unter Heranziehung kritischer Stimmen zeigt Košenina, dass de Bruyn im Nachwort das lang verbreitete Vorurteil von der schulmeisterlich moralisierenden Seichtigkeit Nicolais replizierte, obwohl ihm eine wegweisende Studie in der Ostberliner Staatsbibliothek zur Verfügung gestanden hätte, welche mit eben dieser platten Sicht aufgeräumt hatte. Auch die von Heinrich Heine und Goethe formulierten Urteile zu Nicolai nahm de Bruyn offenbar nicht zur Kenntnis. Da der höchst belesene de Bruyn Essayist, Schriftsteller und Hobbyhistoriker, aber kein Germanist war, macht Košenina ihm die fehlgeleiteten Lesarten von Nicolais Werken nicht zum Vorwurf. Gleichwohl arbeitet die Studie wohltuend einem Verklärungspotenzial entgegen, das bei ostdeutschen Lesern, welche ein identifikatorisches Verhältnis zu ihren Dichtern unterhielten, bis heute besteht.
Christiane Barz befasst sich in ihrem Beitrag mit der Rezeption der Dichtung des märkischen Landpastors Schmidt von Werneuchen bei Goethe, Fontane und de Bruyn. Der Beitrag ist geeignet, die heutigen Leser:innen mit dem Schaffen des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts populären, aber ästhetisch als zweitrangig klassifizierten Schmidt vertraut zu machen, gerade auf dem Wege der Vermittlung durch die drei genannten Dichter ersten Ranges. Die Wiederentdeckung Schmidts lohnt sich auch aus heutiger Sicht, denn das, was Fontane wie auch de Bruyn an ihm schätzten, sind die von Barz unterhaltsam und detailreich erörterten Schwächen und Stärken einer Landlyrik, die auch heute noch unzweifelhaft Leser und Bewunderer finden wird – auch deshalb, weil sie die von de Bruyn avisierte Poesiefähigkeit der sandigen märkischen Natur unter Beweis stellt. Schmidt von Werneuchens „Lobpreisungen der Freuden und Schönheiten“ des Ländlichen, das Idyllische, das Rührende und zugleich unprätentiös Gegenständliche dieser Gedichte, deren formal schlichte und dabei zugleich genaue Schilderungen einfacher Naturerscheinungen, von Tier- und Pflanzenwelt der Region, das Antiurbane und Antihöfische daran, auch dessen durchaus originelle „Possierlichkeit“, so Barz, reizen bis heute. Dankenswerterweise bringt Barz mehrere schöne, amüsante Beispiele, darunter: „Der Hase rammelt; / Die Biene sammelt. / Im Morchenthal / Zum ersten Mal.“ Das wirkt ungelenk, aber eben auch wahrhaftig und unkonventionell, und weist damit genau jene Eigenschaften auf, die de Bruyn auch an Anna Louisa Karschs Gedichten schätzte.
Nicht fehlen durfte ein Beitrag zu de Bruyns Fontane-Rezeption, denn offensichtlich weist de Bruyns Schaffen, einschließlich der Romane, in fast allen untersuchten Aspekten – Natur, Geschichte, Preußen, Adel, Romantik und Spuk – Berührungspunkte zu Fontane auf. In Anbetracht des schieren Umfangs des Themas grenzt der Fontane-Forscher Roland Berbig seine Darstellung auf biographische Eckpunkte der Rezeption, die Auseinandersetzung de Bruyns mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und den Fontane-Band im Dichtergarten ein. Berbig untersucht de Bruyns in diesem Fall erstaunlich akribische Editionspraxis und diskutiert mögliche Beweggründe für die thematisch heterogene und doch ausgewogene Wahl der Texte, welcher, so Berbig, gerade keine Züge einer politischen Stellungnahme anhafteten. Berbig nimmt den Stellenkommentar im Nachwort genauer unter die Lupe, analysiert die Schreibweise und geht auf die von Fontanes melodischem Plauderton beeindruckte Sprache und den Erzählstil de Bruyns ein. Relevant sind Berbigs Hinweise auf de Bruyns – via Fontane entdeckte und vertiefte – Liebe zur brandenburgischen Landschaft und den mit ihr verwobenen Schicksalen. Kein „ideologischer Schatten“ sei bei de Bruyn auf den Dichter Fontane gefallen, „keine Note für historische Einsichten“ sei von ihm verteilt worden, ganz Liebhaber sei de Bruyn gewesen. Auch Berbig zeigt also, dass zumindest der Fontane-Band im Dichtergarten ein Herzensprojekt war, mit dem sich de Bruyn, gewissermaßen jenseits des Gartenzauns, einer überzeitlichen Autonomie von Natur und Ästhetik verschrieb.
Zu dieser beim Faktischen, Historischen und Lokalen ansetzenden, aber ins Psychologische, Ahistorische und Mythologische sich weitenden Dimension der Schriften de Bruyns hier noch eine gesonderte Bemerkung: In Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1999) erzählt de Bruyn, er habe einmal auf die Frage, warum er die Ostzone nicht verlassen wolle, geantwortet, er „täte es sicher, wenn unsere Mutter nicht wäre, die ihre Laube im Märkischen nicht aufgeben will.“ Die Mutter, die Kiefernwälder und eine Frau mit blauen Augen hätten ihn in der DDR gehalten, heißt es wenige Seiten später. Das bei Beeskow in Brandenburg gelegene, eigenhändig sanierte Haus in idyllischer Einsamkeit, in dem de Bruyn bis zum Lebensende arbeitete, war ihm Tröstungs- und Zufluchtsort vor den Zwängen des eigenen Staates. In Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Zukunft (2001) beklagte der Dichter, die DDR habe die deutsche Geschichte, darunter auch die Geschichte Preußens, nur als „eine von Klassenkämpfen mit versuchten unterlassenen Revolutionen“ gesehen, und das „Individuum nur als Illustration von Thesen“. Diese Sichtwesen erhellen de Bruyns Verständnis von Literatur und Literaturgeschichtsschreibung: Der Märkische Dichtergarten befreit sich von dem beklagten reduktionistischen Blick auf deutsche Literaturgeschichte, am Beispiel von mehr oder weniger im märkischen beheimateten oder mit der Mark und Preußen verbundenen Autor:innen. Auch die gegenwärtige Literaturwissenschaft kann, wenn sie auf ostdeutsche Literaturgeschichtsschreibung blickt, jenen von de Bruyn benannten Fehler nicht reproduzieren. Die Beitragenden des Sammelbandes ordnen das Dichtergarten-Projekt überwiegend politisch ein; das ist unabdingbar und verdienstvoll, doch als besonders überzeugend erweisen sich die Beobachtungen zu de Bruyns und Wolfs Nachworten immer dann, wenn der Frage nachgegangen wird, was den Schriftsteller jenseits der politisch gefärbten Rekanonisierung an der Dichtkunst der Aufklärung und Romantik faszinierte, wenn es also um de Bruyns Interesse an den tieferen, durchaus psychologischen Schichten der Natur- und Menschendarstellung geht. Diesbezüglich besonders aufmerksam ist der Beitrag von Christiane Barz, in welchem die Wesensverwandtschaft zwischen de Bruyn und Werneuchen hinsichtlich ihrer Landschaftsliebe herausgestellt wird. Es sind auch ‚alternative‘ ästhetische, raumzeitliche, psychologische Semantiken, die de Bruyn bei den in den Dichtergarten aufgenommenen Dichter:innen suchte und fand. De Bruyns resignative Lust an der Mark und deren Dichtern war nicht nur politisches Statement, sondern auch Ausdruck eines seelischen Bedürfnisses nach Ruhe, dessen Ursprung sicherlich Enttäuschung durch Politik, Leben und Liebe war. Auch diesbezüglich könnte Fontane indirekt Referenz sein: Bei Dubslav von Stechlin, dem Alter Ego in Fontanes im Spätwerk Der Stechlin, handelt es sich um einen höchst eloquenten, konservativen und zugleich weltläufigen Adligen. Nach dem Tod seiner Frau lebt Dubslav Jahrzehnte lang allein in einem auf Sand gebauten Schloss inmitten einer märkischen Landschaft, in der Nähe eines verwunschenen Sees. Im Jahr vor seinem Tod bringt ihn die kluge, glücklich geschiedene Melusine von Barby, Wiedergängerin der unzähligen Wasserfrauen in Fontanes Romanen, kurzfristig aus dem Gleichgewicht. Es wundert nicht, dass Günter de Bruyn in seinem letzten, postum erschienenen Buch Fouqués Märchen von der Wasserfrau Undine neu erzählt und in den Spreewald versetzt. Undine stirbt, im Gegensatz zu Melusine von Barby, an der Nichterfüllbarkeit ihres Begehrens. Es ist diese Faszination an den mythischen Tiefen von Geschichte und Geschichten, die de Bruyn mit Fontane teilte.
De Bruyn war nicht nur gelernter Bibliothekar, Romanschriftsteller, sondern betätigte sich auch als Historiker, Sachbuchautor, Herausgeber, und zu einem gewissen Grad auch als Autodidakt in Sachen Germanistik. Der Sammelband leistet insofern einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der offiziellen wie auch ‚anderen‘ Literaturgeschichtsschreibung der DDR. Zu heiklen literaturhistorischen Fragen – etwa wie de Bruyns resignativer Rückzug ins Märkische oder die Zuwendung zur Romantik politisch zu bewerten sind (innere Emigration als Opposition?) – hätte man sich manchenorts eine ausführlichere Diskussion aktueller Forschungspositionen gewünscht. Kritik an den editorischen und wissenschaftlichen Leistungen des Dichtergarten-Projekts bleibt im Sammelband auf den Beitrag von Alexander Košenina beschränkt. Über das schwierige Verhältnis zwischen de Bruyn und Wolf nach der Wende hinsichtlich politischer Fragen hätte man als Leser:in gern mehr gewusst. Zudem lohnt sich sicherlich ein genauerer Blick auf den Literaturwissenschaftler-Roman Märkische Forschungen (1978), doch erhebt eine Aufsatzsammlung selbstverständlich nicht den Anspruch der Vollständigkeit.
Wer in Sachen Literatur und Literaturgeschichtsschreibung der DDR weiterlesen möchte, dem seien sämtliche Studien von Wolfgang Emmerich empfohlen. Ute Pott und Claudia Brandt haben jüngst eine Edition der schönsten und wichtigsten Briefe und Gedichte von Anna Louisa Karsch veröffentlicht (2022). De Bruyn selbst hatte dem „Sandpoeten“ Schmidt von Werneuchen einen kleinen Band gewidmet (2017). Für de Bruyn-Leser unverzichtbar ist der Band Günter de Bruyn – Schreibwelten. Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart, herausgegeben von Christiane Barz, Wolfgang de Bruyn und Hanna Lotte Lund (Berlin 2022). Die neue Undine (2021) enthält Fouqués Märchen im Original sowie auch eine entschlackte, auf die Dreiecksbeziehung zwischen dem Ritter, Undine und Bertalda und auf den Schmerz des Begehrens konzentrierte Nacherzählung de Bruyns. Dieser Schmerz ist der Ursprung dichterischer Einbildungskraft.
Literaturangaben:
Barz, Christiane / de Bruyn, Wolfgang / Lund, Hanna Lotte (Hg.): Günter de Bruyn – Schreibwelten. Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart. Berlin 2022.
de Bruyn, Günter (Hg.): Der Sandpoet. Friedrich Whilhelm August Schmidt, genannt Schmidt von Werneuchen. Berlin 2017.
de Bruyn, Günter: Die neue Undine. Frankfurt/M. 2021.
Košenina, Alexander (Hg.): Günter de Bruyn und die Märkische Dichtung. Hannover 2022.
Pott, Ute / Brandt, Claudia (Hg.): Anna Louisa Karsch. Briefe und Gedichte. Schriften des Gleimhauses. Halberstadt 2022.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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