Aus der Art schlagen

Was die Spaltung in der Familie soziologisch bedeutet, zeigt Leonie Feuerbach in „Fremd in der eigenen Familie“ an lehrreichen Fallbeispielen auf

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem Menschen zu begegnen, heißt nicht nur, einem Individuum gegenüberzustehen, sondern auch den Systemen, in die es eingebettet ist. Eines dieser Systeme ist die Kernfamilie. Und natürlich wollen Eltern nur das Beste für ihre Kinder – diesen Spruch kennen wir alle. Doch in einer immer komplexer werdenden globalisierten Welt, in der Migrationsgeschichten, Bildungsauf- und abstiege, kulturelle Unterschiede und politische Ideologien aufeinandertreffen, wird es für Eltern wie für deren Kinder immer schwieriger, wirklich einzuschätzen, was das bedeutet: das Beste. Was ist das Beste für mein Kind, wenn es in einem mir fremden Land aufwächst? Was ist das Beste für mein Kind, wenn ich nicht mehr verstehen kann, was es beruflich macht oder was der Inhalt seines Studiums ist? Was passiert in einem Kind, wenn mindestens ein Elternteil geht oder nie da war? Und wenn meine Eltern sich nichts mehr wünschen als Enkel, ich aber keinen Kinderwunsch habe, was dann? Wie finden wir wieder zueinander, wenn unsere religiösen oder politischen Einstellungen zu stark auseinandergehen? Mit Feuerbachs neuer Publikation gibt es vielleicht keine Antworten, aber ein Sammelsurium an hilfreichen Erfahrungen.

Die Welt verändert sich rasend. Familiäre Bindungen können damit kaum Schritt halten. Viele Faktoren führen dabei zur Entfremdung zwischen Eltern und ihren Kindern: Migrationsgeschichten, Bildungsaufsteige, weltanschauliche, politische und religiöse Differenzen. Im Jahr 2021 hatten 27,2 Prozentder Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, die Tendenz steigend. Schon wenn nur ein Elternteil aus einem anderen Land kommt, hat das einen bisher unterschätzten Einfluss auf die Perspektive und den Lebensweg des aufwachsenden Kindes. Dazu kommt noch die soziale Herkunft: Ganze 49 Prozent der 19- bis 24-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland sind sogenannte Arbeiterkinder, entstammen also einer niedrigeren sozialen Herkunftsgruppe, die ihr weiteres Leben emotional und praktisch wesentlich prägt. Die Zusammenhänge zwischen der ökonomischen Situation und der Bildungstradition im Elternhaus auf der einen Seite und dem studentischen Verhalten der Kinder auf der anderen Seite ist nicht von der Hand zu weisen.

Hat ein Arbeiterkind den Bildungsaufstieg geschafft und fühlt sich ein erwachsenes Kind trotz Migrationshintergrund in Deutschland zu Hause, scheinen die oben geschilderten Startprobleme von außen erst einmal gelöst: Worüber wollen sich diese Menschen noch beschweren? Sie verfügen über ein reiches kulturelles Erbe, einen kritischen sozialen Blick mit prägenden Erfahrungen – und jetzt finden sie sich scheinbar problemlos in Deutschland, der akademischen Welt oder einem vergleichbaren Milieu zurecht. Vielen dieser mittlerweile erwachsenen Kinder merkt man weder ihren Migrationshintergrund noch ihre soziale Herkunft an. Wo also liegt das Problem? Sollten Erstakademiker und Migrantenkinder nicht einfach dankbar sein, dass Deutschland ihnen diese wunderbaren Entfaltungsmöglichkeiten geboten hat und sie nun „angekommen“ sind?

Hier ist Feuerbachs Publikation eine Goldgrube, längst überfällig in der Diskussion im Migration und Bildungsaufstiege: Einen familiären Hintergrund schüttelt man nicht einfach so ab. Das zeigt die Autorin an mehreren realen Fallbeispielen auf. Familien können uns stützen – so empfinden viele ihre Beziehung ihren Verwandten. Familien können allerdings auch sehr belasten, wenn man Wege geht, die dieser Familie fremd sind. Feuerbach weist auf ein hierbei oft ignoriertes, doch immer häufiger werdendes soziales Phänomen hin: Erwachsene Kinder, die sich durch ihren Lebensweg vom Elternhaus entfremden, stoßen auf massive Probleme bei der Vereinbarkeit ihres jetzigen Lebens mit der Prägung durch das Elternhaus. Vieles, das für die erwachsenen Kinder nun zum essentiellen Teil der eigenen Identität wird, ist plötzlich mit den Eltern nicht mehr kommunizierbar.

Andersherum bleibt das Fremdheitsgefühl gegenüber der akademischen Welt und auch allgemein gegenüber dem Land, in dem man nun aufgewachsen ist und lebt, oft weiterhin bestehen, weil der Sog der Herkunftsfamilie so stark ist. Kinder, die durch einen Migrationshintergrund und/oder einen Bildungsaufstieg geprägt sind, müssten zwischen mindestens zwei Welten balancieren, die oft wenig voneinander wissen wollen. Die damit einhergehenden emotionalen Belastungen und psychologischen Folgen für die Betroffenen sind mittlerweile immer besser dokumentiert. Feuerbachs Buch leistet hier einen wichtigen Beitrag. Dennoch fehlt es an einem gesellschaftlichen Bewusstsein dafür, dass Privileg nicht gleich Privileg ist und dass das (familiäre) Privatleben vieler Menschen, die den Aufstieg äußerlich scheinbar „geschafft“ haben, so kompliziert sein kann, dass es sie fast auseinanderreißt.

Feuerbach gibt in ihrem Buch an, selbst eine gute Beziehung zu ihren Eltern – von Beruf Psychologen – zu haben und in einer heutzutage vielkritisierten Blase aufgewachsen zu sein, die ihr Sicherheit und Orientierung bot. Die Geschichten von Menschen, bei denen dies nicht der Fall ist, haben sie daher besonders interessiert. Die Autorin hat ihr Buch in mehrere Sinnabschnitte aufgeteilt, die die Demarkationslinien problematischer Eltern-Kind-Beziehungen gut wiedergeben: Politik, Migration, Bildung, Glauben und Trennung. Denn in heterogenen Klassen- und Migrationsgesellschaften – das ist heutzutage also fast überall – wäre es naiv zu erwarten, dass wir alle die gleichen Geschichten und Probleme teilen; selbst dann, wenn wir uns ähnlich
scheinen. Postmigrantische deutsche Realitäten sind ebenso heterogen wie die Geschichten, die zum sogenannten sozialen Aufstieg führen.

Mit großer Sensibilität und angemessener Distanz gibt die Autorin zahlreiche Geschichten wieder, die im Zuge ihrer Studie mit ihr geteilt wurden. Neben allen Unterschieden haben die Geschichten gemein, dass sich die mittlerweile erwachsenen Kindern ihren Eltern verpflichtet fühlen, ihnen mit Liebe und Verständnis begegnen wollen, gleichzeitig jedoch fühlen, dass etwas sie trennt. Was sie trennt, ist etwas, das nur unter großen Anstrengungen und lediglich temporär oder je nach Situation, nicht aber vollständig überbrückbar scheint. Wenn der Vater es nicht lassen kann, selbst in alltäglichen Situationen sexistische Kommentare zu machen, wie spricht man dann noch miteinander? Wenn die Mutter die AfD wählt, man selbst aber die Linke, darf man dann überhaupt noch politische Themen ansprechen? Wenn die Eltern ununterbrochen Videos von Impfgegner-Gruppierungen oder Verschwörungstheorien auf WhatsApp teilen, wie sage ich ihnen – ohne sie zu verletzen –, dass mich das stört und in meiner Beziehung zu ihnen verunsichert? Wenn mein Vater meinen Partner nicht akzeptiert, weil er zum Beispiel einer anderen Ethnie oder religiösen Gemeinschaft angehört, oder weil er oder sie das gleiche Geschlecht hat, wie kann ich dann überhaupt noch vermitteln?

Gibt es so gar keinen kommunikativen Mittelweg, auf dem man sich treffen kann, hilft nur, den Kontakt zu verringern, die Art der Treffen miteinander anders zu gestalten oder, im schlimmsten Fall – für den sich nur die wenigsten Kinder entscheiden, weil es auch ihnen wehtut – den Kontakt abzubrechen. Alle Wege sind legitim und verständlich. Grenzen aufzuzeigen und trotzdem Verständnis zu wahren ist der Balanceakt, den viele der Menschen, von denen Feuerbach in ihrem Buch spricht, täglich vor sich haben. Dass Kinder in dieser sehr spezifischen Weise unter ihren Eltern leiden können, ist immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema. Denn das Selbstbewusstsein der Elterngenerationen ist stark: Natürlich machen wir Fehler, aber das machen alle Eltern! Erwartet werden ewige Dankbarkeit und unbedingte Loyalität, egal was die Eltern von ihren Kindern trennt oder was die transgenerationale Weitergabe mit den Kindern gemacht hat. Für viele bleiben ihre Kinder ewig Kinder, und nur wenige Eltern, von denen im Buch die Rede ist, schaffen es überhaupt ansatzweise, ihrem erwachsenen Nachwuchs auf Augenhöhe zu begegnen oder die eigene Verantwortung für das friedliche Miteinander einzusehen.

Die Folge ist, dass Menschen mit solchen Familiengeschichten oft woanders ihre engsten Vertrauten suchen – etwa in Freundschaften und romantischen Beziehungen anstatt bei den Eltern. Dies allerdings sind andere Formen von Zugehörigkeit, und so wundert es nicht, dass erwachsene Kinder, die sich von ihren Eltern entfremdet fühlen, ein emotionales Gewicht mit sich herumtragen, das nicht immer so einfach durch andere Beziehungsformen zu erleichtern ist. Für manche bleibt das Gefühl der Verlorenheit bestehen, mitunter sogar in Form eines ethnischen Hochstapler-Syndroms (ethnic / racial impostor syndrome), also dem Eindruck, in keiner Kultur hundertprozentig dazuzugehören. Was auch immer ein Mensch in seinem Leben erreicht – die Entfremdung von der eigenen Familie ist eine Bürde, für die sich viele sogar eher schämen als von ihr zu sprechen. Für viele dieser Menschen ist ein vertrautes, freundschaftliches, stützendes Verhältnis zu den Eltern nur ein Traum. Feuerbach gibt diesen Leuten mit ihrem Buch einen Raum.

Die Geschichten, von denen in der Publikation die Rede ist, zeigen immer wieder einen wichtigen Punkt auf: Die Eltern-Kind-Beziehung ist eine asymmetrische. Sich in der Mitte zu treffen, ist unmöglich, wenn Eltern nicht auch einen Schritt auf ihre Kinder zugehen und ihnen dabei zugleich die Freiheit geben, ihr Leben nach eigenen Werten und Vorstellungen zu gestalten – im besten Fall sogar mit einer Prise Wertschätzung statt Naserümpfen. Das gilt in beide Richtungen des sozialen Auf- und Abstiegs: Nicht nur Eltern von Bildungsaufsteigern sollten versuchen, Respekt für die Lebensentscheidungen ihrer Kinder aufzubringen. Auch Bildungsabsteiger haben mit den hohen elterlichen Erwartungen zu kämpfen.

Feuerbachs Publikation ist kein psychologischer oder soziologischer Kategorisierungs- und Ordnungsversuch, sondern lässt uns in Form sehr unterschiedlicher, persönlich gefärbter Einzelgeschichten auf nahbare Weise wahrnehmen, was sonst weitestgehend vom Nebel der integrationspolitischen Selbstbeweihräucherung der Bundesrepublik verdeckt wird. Viele Deutsche loben die Bundesrepublik gern aufgrund ihrer unbegrenzten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und ziehen dabei gerade diejenigen Menschen mit Migrationshintergrund oder schwieriger sozialer Herkunft als Positivbeispiele für das heran, was in Deutschland möglich sei.

Feuerbachs Buch schafft dagegen Tatsachen: Selbst wenn es so wirkt, sind wir sind eben nicht alle gleich, und manche Menschen haben es familienbedingt schwerer, sich zu orientieren, mit einer Laufbahn zu identifizieren und sich als zugehörig zu empfinden. Das sind oft gerade die, bei denen es gar nicht mehr auffällt, weil sie zu Habitus-Chamäleons geworden sind. Da hilft auch kein universitärer Abschluss, kein geregeltes Einkommen, keine politisch korrekte akademische Blase, kein deutsches Aussehen, keine „gelungene Integration“ in die deutsche Kultur – die innere Zerrissenheit bleibt.

Der Grundton in „Fremd in der eigenen Familie“ ist bei alldem aber überraschend positiv: Bei aller Entfremdung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern gibt es zumindest in vielen der Geschichten die Hoffnung, trotz der Differenzen eine Familie zu bleiben. Das mag nicht immer funktionieren, und auch das ist ein ernstzunehmender Umstand. Doch wenn Kinder es schaffen, manchmal über die teils erschütternden Bedingungen hinwegzusehen, unter denen sie aufgewachsen sind und die sie nun im Rucksack tragen, dann kann eine annehmbare Eltern-Kind-Beziehung noch gelingen.

Was in dem Buch zu kurz kommt, ist die Frage, was eigentlich erwachsene Kinder von körperlich, psychisch und altersbedingt erkrankten Eltern erleben. Auch hier könnte man sich vorstellen, dass diese Menschen ähnliches zu erzählen wissen wie die Kinder, deren Eltern ihnen aufgrund ihrer traditionellen, kulturellen, sozialen oder politischen Einstellungen das alltägliche Leben verkomplizieren. Es ist zwar (endlich) immer häufiger von Letzteren die Rede – doch auch der Umstand, dass es erwachsene Kinder schwer erkrankter Eltern gibt, die ihren beruflichen Alltag trotz dieser Belastung meistern müssen, ist eine Form der sozialen Benachteiligung, über die man sprechen müsste. Hier wäre ein zusätzliches Kapitel zu diesem Thema wichtig für die Vollständigkeit der Darstellung gewesen. Allerdings ist das Fehlen dieser Komponente möglicherweise dem Umstand gewidmet, dass Feuerbach ihre Interviewpartner hauptsächlich über Gesuche gefunden hat. Da insbesondere psychische Erkrankungen immer noch tabuisiert sind, haben sich vielleicht einfach weniger Menschen mit diesen Geschichten gemeldet. Zudem fokussiert sich Feuerbachs Publikation insbesondere auf Spaltungen ideologischer Form.

Die von Feuerbach zusammengetragenen und anonymisiert wiedergegebenen Geschichten zeigen vor allem, dass Familien ein soziologischer Sonderfall gesellschaftlicher Spaltung sind: Hier stehen nicht einfach mehrere politische und kulturelle Lager gegeneinander, sondern sitzen an einem Esstisch. Sie teilen eine gemeinsame, oft tragi-komische Geschichte. Wer selbst aus einer eher bestärkenden, funktionaleren und stabileren Familienkonstellation kommt und wirklich verstehen will, was das Gegenteil bedeutet, sollte Feuerbachs Buch unbedingt lesen. Und diejenigen, die selbst das Schicksal mit den Menschen teilen, die im Buch zu Wort gekommen sind, werden in der Publikation einen Trost finden, mit ihrer Geschichte sozialen Aufstiegs oder als Third Culture Kid nicht allein zu sein. Auch das könnte eine – in unserer Gesellschaft noch weitestgehend stille, ungelebte – Form der Zugehörigkeit schaffen.

Titelbild

Leonie Feuerbach: Fremd in der eigenen Familie. wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022.
206 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783525462829

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch