Der irre Wunsch nach der Wiedergeburt einer Schwester

Nicoletta Verna erkundet den „Wert der Gefühle“ in einer zerbrochenen Familie

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Selbst die Tatsache, dass sich meine Mutter hin und wieder umbringen will, ist zur Gewohnheit geworden, wie fast alles.“ So beginnt die Icherzählerin Bianca den Roman ihrer Verstörung. Bianca träumt jede Nacht, sie bringe ihre Schwester Stella um. Diese ist mit 14 Jahren, damals war Bianca sieben, ums Leben gekommen. Biancas Albträume und der Rücktitel des Verlags „Wie hoch ist der Preis einer Schuld?“ lassen vermuten, Bianca sei zumindest mitschuldig an diesem Tod.

In eindringlicher Sprache, zu Recht gerühmt und von Ingrid Ickler tadellos ins Deutsche gebracht, schildert Nicoletta Verna das unsägliche psychische Leid Biancas. Warum aber bleibt die Schuldfrage viel zu lange offen? Gerade bei einer rasch als unzuverlässig erkannten Erzählerin wüsste man gern, wieso sie von der Wahrheit abweicht. Hat sie der Schwester etwas angetan oder sie nur nicht genug geliebt?

Als sich schließlich die Beteiligung einer anderen Person an Stellas Unfalltod herausstellt, ändert das nichts an der misslichen Lage der Familie. Wie Bianca konstatiert, sind auch die Lebenden tot. Die Mutter ist nach mehreren Selbstmordversuchen in einer Heilanstalt untergebracht und wünscht sich nur noch, endlich in die Etage mit den ganz schweren Fällen aufzurücken. Der Vater hat die psychische Belastung nicht ausgehalten und den bequemsten Ausweg gewählt: die rumänische Pflegerin seiner Frau in deren Heimat begleitet.

Bianca lebt nach außen hin normal. Ihre Arbeit, sie transkribiert Interviews für ein Meinungsforschungsinstitut, betrachtet sie mit giftiger Ironie als läppisch. Doch sie hat sich den schönen Carlo als Ehemann geangelt, einen zum Weltruhm strebenden Herzchirurgen. Die Prüfungsszene mit Carlo als Medizinprofessor und der Studentin Bianca als seiner Geliebten bringt eine willkommene Ablenkung von all den Neurosen und Zwangshandlungen. Taktisch geschickt lässt Carlo die anderen Studenten die Prüfungsfragen stellen. Und als Bianca die Fangfrage einer falschen Freundin souverän beantwortet, entsteht zwischen ihr und Carlo eine tiefe innere Verbindung.

Bianca redet Carlo, mit dem sie in einer Penthousewohnung in Rom lebt, ins Gewissen, seinen Vater, der sich die Erfüllung des Kinderwunschs verzweifelter Ehepaare königlich bezahlen lässt, nicht grundsätzlich abzulehnen. Bianca fühlt sich auf ihren Schwiegervater angewiesen. Ihr körperlicher Zustand schließt Mutterschaft praktisch aus. Doch sie hat sich Carlo für ihr irres Streben ausgesucht, Stella wieder auf die Welt zu bringen, für ihre Mutter und vielleicht auch für sich selbst.

Wenn Bianca schon ihr Leben nicht beherrscht, will sie wenigstens Herrin über die Abfälle sein. Ihr Kontrollwahn schafft beim Sortieren und statistischen Erfassen von Lebensmitteln und Hygieneartikeln ekelerregende Situationen, auf die man beim Lesen gern verzichten würde.

Der deutsche Titel des Romans wirft Fragen auf. Vom „Wert der Gefühle“ ist kurz vor Schluss ein einziges Mal die Rede. Der „Gefühlswert“ bestimmter Dinge, also der „sentimentale“ Erinnerungswert, hingegen kommt mehrfach zur Sprache und gibt dem Roman den Originaltitel Il valore affettivo. Was sprach gegen die wörtliche Übersetzung Der Gefühlswert? 

Die letzte Szene ist stark. Bianca hält nach zwanzig Jahren endlich eine Barbie-Puppe in den Händen, wie Stella sie geschenkt bekam und Bianca sie liebend gern gehabt hätte. Offenbar hat Stella sie für die Schwester gekauft. Angeblich ließen sich mit einem Zaubertrank die Locken der Puppe glätten. Doch der Trick funktioniert so wenig wie Biancas verzweifelter und irrwitziger Versuch, Stellas Tod ungeschehen zu machen.

Titelbild

Nicoletta Verna: Der Wert der Gefühle. Roman.
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler.
Folio Verlag, Wien 2022.
240 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783852568607

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