Nachruf auf den Kafka-Forscher Jürgen Born

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Der Aufschwung, den die deutsche Kafka-Forschung seit den 60er Jahren nahm, ist ohne Jürgen Born nicht zu denken. Lange Zeit gehörte er zu ihren wichtigsten und produktivsten Vertretern. Seit 1974 Professor an der Gesamthochschule Wuppertal, der heutigen Bergischen Universität, leitete er die Historisch-Kritische Ausgabe der Schriften Franz Kafkas. Er gründete dafür die Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur, die durch seine Bemühung auch die 1982 von einem Münchener Antiquar angebotene Bibliothek Kafkas, soweit sie erhalten war, aufnehmen konnte.

Jürgen Born wurde 1927 in Danzig geboren. Er verbrachte seine Jugend in Berlin und wurde noch vor Kriegsende eingezogen, nicht einmal 18 Jahre alt. Anschließend begann er Germanistik und Anglistik an der FU Berlin zu studieren und ergriff die erste Gelegenheit, Deutschland zu verlassen. Er setzte, zuerst als Austauschstudent, sein Studium in Harvard und dann an der Northwestern University bei Erich Heller fort, in dem er seinen akademischen Lehrer fand. Nach der Promotion lehrte er an der Marquette University in Milwaukee und an der University of Massachusetts in Amherst, bevor er nach Deutschland zurückkehrte.

Kafka-Lesern war er spätestens ein Begriff, als er 1967 zusammen mit Erich Heller die Briefe an Felice herausgab. 1983 kamen die Briefe an Milena in der von ihm und Michael Müller besorgten Neuausgabe hinzu. In seinen letzten Jahren dachte Born, uneitel, wie er war, kritisch über diese Editionen: die Briefe erschienen ihm im Nachhinein zu privat für eine Publikation.

1979 und 1983 brachte er die beiden Bände Franz Kafka. Kritik und Rezeption heraus; der erste umfasst die Jahre 1912 bis 1924, der zweite die von 1925 bis 1938. 1990 folgte Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis, mit einem Nachwort über „Kafka als Leser“. Jeder dieser Bände ist bis heute für Kafka-Forscher unverzichtbar, jeder eine Fundgrube, nicht zuletzt durch die konzisen Kommentare.

Seine Aufsätze über Kafka aus ungefähr 30 Jahren sammelte Born zuletzt 2015 unter dem Titel Franz Kafka oder Die Magie einer Prosa. Unter ihnen sind wohlinformierte, ebenso originelle wie prägnante Artikel, etwa „Kafkas unermüdliche Rechner“ oder „Kafka als Kritiker der Moderne“. Neben der Interpretation bestimmter Texte Kafkas, der Romane wie einiger Erzählungen, beschäftigten ihn Fragen ihrer Rezeption, etwa durch Thomas Mann oder Elias Canetti. Auch das Verhältnis von Leben und Werk handelte er in einem abwägenden Aufsatz ab, in dem er am Ende an die „Eigengesetzlichkeit“ der Literatur erinnerte. Born wusste sich in seinen Arbeiten kurz zu fassen, schrieb unprätentiös und klar. Nicht zufällig schätzte er die kleine Prosa Kafkas, die er 1994 in einem Band unter dem Titel Poseidon zusammenstellte.

Dass Born nicht nur ein Kafka-Kenner war, belegt die von ihm herausgegebene Übersicht über Die deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern von 1993, die erweitert und 2000 überarbeitet, herausgegeben zusammen mit Dieter Krywalski, in der dritten Auflage erschien: auch das ein historisches und bibliographisches Grundlagenwerk. Eine ganz andere Seite seiner Interessen zeigt die Anthologie Wenn der Abend kommt von 1988, eine Sammlung von Abendliedern und -gedichten aus vier Jahrhunderten, die ihn als Kenner der deutschen Lyrik, nicht zuletzt des Barock ausweist. Dass er auch in der Literatur der Romantik bewandert war, trat in fast jedem Gespräch zutage.

Jürgen Born war als akademischer Lehrer unverwechselbar. Im Unterschied zu manch einem seiner germanistischen Kollegen war er weltläufig, viel auf Reisen in Europa und den USA, ein gefragter Redner. Wer bei ihm studierte, konnte die bedeutendsten Kafka-Forscher kennenlernen, die er zum Vortrag in seine Seminare und Vorlesungen einlud. Zum anschließenden Beisammensein waren Studenten und Studentinnen selbstverständlich zugelassen. In kleinem Kreis war er auch bereit, von all den berühmten Schriftstellern, Gelehrten und Verlegern zu erzählen, die ihm im Lauf seines Lebens auf zwei Kontinenten begegnet waren.

Born hatte seinen eigenen Stil. Er war gesellig, freundlich und nahbar, konnte ironisch und selbstironisch sein, lachte gern, war dabei nachdenklich und verbindlich, ein guter Zuhörer und Ratgeber. Sein langjähriger Kollege Dietrich Weber nannte ihn in einer hausinternen Festschrift zum 65. Geburtstag treffend „zwanglos-kollegial, freund-nachbarlich, unkompliziert in der Verständigung“, „anregungsreich und voller Gewinn im Austausch“.

Jürgen Born war ein leidenschaftlicher Philologe, der sich in Sätze und Wörter vertiefen konnte und seine Hörer auch dazu anhielt. In seinen Vorlesungen unterbrach er sich nicht selten, schob das Manuskript zur Seite, schwieg, ging zum Fenster, schwieg noch immer und kehrte dann nach einer Weile zum Pult zurück, um, ohne Skript, neu anzusetzen. Man konnte ihm beim Denken zusehen und lernen, dass nichts feststeht, dass man alles immer noch besser machen und, nicht zuletzt, sich noch genauer ausdrücken kann. Verstehen übte er als unabschließbare Tätigkeit.

Am 22. Januar ist Jürgen Born, 95 Jahre alt, gestorben.