Zwischen Polemik und Bewunderung
Die „Oevelgönner Ausgabe“ der Werke Peter Rühmkorfs ist auf einem guten Weg.
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls erster Band der neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe liegen nun Peter Rühmkorfs Essays und Monographien aus der Zeit vom August 1953 bis zum Frühjahr 1962 innerhalb der auf 21 Bände geplanten Oevelgönner Ausgabe im Göttinger Wallstein Verlag vor. Herausgegeben werden die Sämtlichen Werke gemeinsam von Hans-Edwin Friedrich (er vertritt die Rühmkorf-Forschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Stephan Opitz (als einem der beiden Testamentsvollstrecker von Peter Rühmkorf) und von Susanne Fischer (von der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld, der Urheberrechtserbin und Nachlassverwalterin der Werke Peter Rühmkorfs). In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar sollen sämtliche zu Lebzeiten von Rühmkorf autorisierten Texte, aber auch seine bislang unveröffentlichten Texte zugänglich gemacht werden. Grundlage sind die Fassungen erster Hand, ergänzt durch textkritisch durchgesehene weitere Textzeugen. Jeder Band wird über einen Stellenkommentar verfügen, der sich jedoch auf knappe Erläuterungen der von den jeweils verantwortlichen Herausgeber:innen als erklärungsbedürftig angesehenen Sachverhalte oder Querverweise beschränken soll und keine Interpretation bieten möchte.
In der Abteilung „Essays und Monographien“ werden neben diesem zwölften Band drei weitere Bände zur Literaturkritik erscheinen, zwei Bände mit den Schriften zur Poetik, ein Band der Rühmkorfs Schriften zu Bildender Kunst, Film und Musik gewidmet ist und ein abschließender Band mit Feuilletons uns zur Aphoristik. Von den literarischen Werken erscheint demnächst ein erster Band „Gedichte“ – zwei weitere sind geplant – sowie ein Band mit denDramen und Hörspielen und ein Band mit „Märchen und Erzählungen“; drei Bände „Gespräche und Interviews“ sollen die Ausgabe der Sämtlichen Werke beschließen.
Zunächst also liegen nun die Arbeiten des umtriebigen Kritikers Rühmkorf vor, der mit dem früh verstorbenen Werner Riegel (1925–1956) die hektographierte Zeitschrift Zwischen den Kriegen herausgegeben hatte. Schon dort schrieb Rühmkorf unter Pseudonymen wie Johannes Fontara, Leslie Meier, Lyng, John Frieder, Hans Hingst und Leo Doletzki. Später arbeitete Rühmkorf auch für den Hamburger Studentenkurier, für die Zeitschrift konkret und auch für diverse überregionale Tageszeitungen sowie als Lektor und Herausgeber im Rowohlt Verlag.
Stephan Opitz und Barbara Potthast, die beiden Herausgeber dieses ersten Bands, präsentieren Rühmkorfs Aufsätze zur zeitgenössischen Literatur, über Vorgänger und Schriftstellerkollegen und -kolleginnen. Die Kritiken sind keinesfalls „verstaubt“, sondern zählen zu den lesenswertesten Texten ihrer Art. Bereits der junge Rühmkorf setzte Maßstäbe der literarischen Kritik und verschaffte sich mit seinen Anklagen gegen die „Literarurbüttel“, „Mäkler“, „Prüdler“, „Nörgelinge“ und „Schwatzkes“ nachhaltig Gehör. Sein stilistischer Reichtum verblüfft noch heute.
Rühmkorfs Maßstäbe bei der Beurteilung von Lyrik sind die Neuigkeit des Gebotenen, dessen Reichtum an Bilderwelten, aber auch die Präzision der Sprache der Autorinnen und Autoren; manchmal allerdings auch die Einfachheit, die Abkehr vom „inneren Leierkasten“ (Arno Holz) eines erzwungenen Reims, wie dies Rühmkorf schon in seiner Kritik der Gedichte des Autors Gottfried Pfeffer demonstrieren kann, einem damals 19-jährigen Studenten der Romanistik, der heute weitgehend unbekannt und vergessen ist.
Einen ersten Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe bildet der Komplex „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“, bestehend aus 26 Texten, die Rühmkorf von 1956 an im Studentenkurier schrieb, und ab August 1957 bis Ende 1958 in der Zeitschrift konkret veröffentlicht hat. Danach folgen Texte, die diesem Komplex ebenfalls zuzurechnen sind, aber in Zeitungen wie Die Welt oder der Süddeutschen Zeitung erscheinen konnten. Enthalten ist auch ein längerer Text aus der Literaturzeitschrift Akzente, Rühmkorfs Kommentar zu der Tagung „Zur Lyrik heute“, die in Berlin am 17. November 1960 stattfand. Rühmkorf nahm an ihr neben Lyrikern wie Günter Grass, Helmut Heissenbüttel oder Franz Mon teil.
Ein zweiter Schwerpunkt widmet sich der vielgerühmten rororo-Bildmonographie Wolfgang Borchert in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, für die Rühmkorf als Lektor und Autor des Rowohlt Verlags hauptverantwortlich war. Diese Monografie erschien von 1961 bis zum Jahr 2007 in 29 Auflagen. Vorgestellt werden im Kommentarteil bislang unbekannte Textvarianten neben Erläuterungen zu Person und Werk Wolfgang Borcherts, aber zusätzlich auch Rühmkorfs Notate zu den korrigierten Nachdrucken späterer Auflagen. Die von der Bildredaktion des Verlags zusammengetragenen Bilder werden als Paratext im Anhang vollständig beigegeben – Rühmkorf hatte seinen Text allerdings verfasst, ohne sich auf diese Illustrationen zu beziehen, wie die beiden Herausgeber betonen.
Den Band beschließen zwei Texte, die eine Art Zwischenbilanz darstellen: Rühmkorfs Nachwort zu Werner Riegels Gedichte und Prosa (1961, im Limes Verlag Wiesbaden erschienen), in dem er noch einmal einen Kollegen würdigt, den „unser retrospektiv entdeckungsfreudiges Lesepublikum zu seinen Lebzeiten nicht wahrgenommen und dessen Existenz nicht einmal als vergessen angesehen werden kann“. Diesem beeindruckenden Nachruf folgt Rühmkorfs bilanzierendes Nachwort zu Wolfgang Borcherts Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß, in dem ein revidierender Blick auf das seit 1949 publizierte Gesamtwerk Borcherts geworfen wird.
Als Fazit kann festgehalten werden: Peter Rühmkorf erweist sich als ein hervorragender Kenner der deutschsprachigen Lyrik und ein im literarischen Urteil ambivalenter Verfechter der Gedichte Gottfried Benns; ebenso aber auch als ein glühender Verehrer Hans Henny Jahnns und Arno Schmids. Überraschenderweise auch als jemand, der dem damals zu erstem Ansehen gelangenden Autor und Herausgeber Alfred Andersch durchaus skeptisch gegenüberstand und der einen umstrittenen Autor wie Henry Miller trotz seiner Obszönitäten bewunderte. Schon Peter Rühmkorfs erste literaturkritische und essayistische Schriften der frühen 50er Jahre überraschen die heutigen Leser:innen durch ihre Frische und ihren sprachlichen Detailreichtum, so nachzulesen schon im Kleinkomplex „Das Experiment I-IV Direktion Leslie Meier“, der dem „Schlachthof“ Leslie Meiers vorgeschaltet war und der sich als Leseeinstieg bestens eignet. Auch die Ausstattung der Oevelgönner Ausgabe vermag in jeder Hinsicht zu überzeugen, unterstützt durch das anspruchsvolle Layout des bekannten Typografen Friedrich Forssmann, das eine rasche und sichere Orientierung im Kommentarteil gewährleistet. Die Ausgabe erwähnt sämtliche verwendeten Werke Rühmkorfs und schließt mit einem umfangreichen Namensregister.
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