Am eigenen Leben entlang

Judith Hermanns Band „Wir hätten uns alles gesagt“ ist ihre bislang persönlichste Veröffentlichung

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert ging Judith Hermanns Stern am literarischen Himmel auf. Mit ihrem literarischen Debütwerk Sommerhaus, später (1998) landete sie gleich einen grandiosen Erfolg. Der Band avancierte zum Bestseller (über 250.000 verkaufte Exemplare, Übersetzungen in 17 Sprachen), und der Name Judith Hermann galt fortan beinahe als Synonym für das mediale Phänomen „Fräuleinwunder“. Als „Stimme ihrer Generation“ wurde sie gefeiert und ihren Texten ein „unwiderstehlicher Sog“ attestiert.

Die vielfach preisgekrönte Autorin Judith Hermann hatte bisher weder in Interviews noch in ihren Werken über Details aus ihrem Privatleben Auskunft gegeben. Die Person hinter den stets etwas geheimnisvoll wirkenden Büchern hat sich selbst durch ihr beharrliches Schweigen als „Geheimnis“ inszeniert, als eine Art Autorin ohne öffentliche Vita.

Mit dem nun vorliegenden (ohne Genrebezeichnung erschienenen) Band, dem die im Sommer 2022 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen zugrunde liegen, bricht Judith Hermann ihr Schweigen und breitet viele Details aus ihrem Leben aus.

Wir werden mit einer wenig freudvollen Kindheit im Berliner Stadtteil Neukölln konfrontiert. „Die Tür zu der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, zu öffnen, bedeutete, im Geheimnis zu stehen.“ Wir erfahren von einem depressiven Vater, von einer Großmutter, die im gleichen Haushalt lebte und von einer Mutter, die sich im Dauerstress befand, für das Auskommen und den Zusammenhalt der Familie sorgen musste und die sich daher weder intensiv um die Ich-Erzählerin noch um deren sieben Jahre jüngeres Zwillingsgeschwisterpaar kümmern konnte.

Es ist viel von seelischen Verletzungen die Rede, die sich auch (zumindest latent) in all ihren Büchern wiederfinden. Der Großvater war Alkoholiker, bei dem sie unter dem Billardtisch hockte und sich angstvoll die Ohren zuhielt. Von einem Puppenhaus mit fensterlosen Verliesen, mit dem sie einst spielte, ist ebenso die Rede wie von der traumatischen Wirkung der Beerdigung ihres Großvaters.

Das liest sich kaum anders als in Judith Hermanns Romanen und Erzählungen, auf die häufig direkt Bezug genommen wird. Es scheint Vorsicht geboten, um der literaturtheoretisch so versierten Autorin nicht auf den Leim zu gehen. Diese biografischen Fragmente werden wahrscheinlich nicht eins zu eins dem Lebensweg der 52-jährigen Autorin entsprechen. Der Konjunktiv im Titel des Bandes hat durchaus programmatischen Charakter für Hermanns gesamtes Werk. Vage Andeutungen, pointiert gestreute Zweifel und arrangierte Schwebezustände ziehen sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre. Nicht zufällig lautete der Untertitel der Frankfurter Poetikvorlesungen „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“.

„Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“, heißt es im Band, in dem Judith Hermann wiederholt Erläuterungen zu Figuren aus ihren Vorgängerbüchern einstreut. Die dargestellten Erinnerungen an ihre Psychoanalyse und die Begegnung mit einem Psychiater waren sicherlich Grundlage für die Figur des Dr. Gupka in ihrem Erzählungsband „Lettipark“.

Das ist erzählerisch perfekt durchkomponiert und mit allerlei Lektüre-Haken versehen. „Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“

Judith Hermann nimmt sogar Bezug auf die Rezeption ihres Werkes und zitiert einen Verriss ihres Romans Aller Liebe Anfang (2014), in dem ihr attestiert wurde, dass sie nichts zu erzählen habe. Inzwischen hat sie sich mit diesem Gedanken kunstvoll arrangiert und gesteht (auch das ein Kunstgriff?), „dass ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“ Fiktion und Realität verschwimmen hier peu à peu und vermischen sich mit Judith Hermanns stark selbstreferenzieller Literaturtheorie.

Es ist wahrscheinlich Judith Hermanns persönlichstes und kompliziertestes Buch, denn die vielen Anspielungen und das Jonglieren mit der eigenen Biografie erschließen sich dem Leser nur mit profunden Kenntnissen des umfangreichen Hermannschen Oeuvres als Background. Für nicht Hermann-Insider ist dies ganz schwere Kost. Am Ende stellt sich gar die Frage, ob Judith Hermann mit diesem Band nicht sogar die Geheimnisse um ihre Person bewusst vergrößert hat.

Titelbild

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
188 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783103975109

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