Eine geplagte Pflegerseele

Frédéric Valin gibt in „Ein Haus voller Wände“ einen schonungslosen Einblick in den Alltag unseres Pflegesystems

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Lektüre von Frédéric Valins neuem Buch, dessen Titel Ein Haus voller Wände tautologisch anmutet, erwartet man zunächst, dass es sich bei dem Ich-Erzähler Niklas um eine fiktive Figur handelt. Niklas berichtet aus dem Alltag eines Pflegenden und blickt auf seine siebenjährige Tätigkeit in einer Wohngruppe für geistig und körperlich beeinträchtigte Menschen zurück. Doch das Buch bietet mehr und entzieht sich einer klaren Gattung: Es ist kein Roman, keine Erzählung und auch mit dem Begriff „Autofiktion“ wird man diesem Text nicht gerecht. Das tut der Lektüre aber keinen Abbruch. Zwar hört die Ich-Erzählstimme auf den Namen Niklas, doch mit jeder weiteren Seite wird deutlicher, dass die Stimme Frédéric Valins hervorsticht und sich mehr und mehr zu erkennen gibt. Denn der deutsche Autor und Journalist hat bereits mit vergleichbaren Publikationen wie mit dem Erzählband In kleinen Städten (2013) oder Pflegeprotokolle (2021) Bekanntheit erlangt.

Valin blickt ungeschönt, aber doch mit Empathie in die gar nicht so heile Welt des Pflegealltags in einer Wohngruppe. In den erzählerisch-dokumentarischen Kapiteln verleiht der Autor ihnen Individualität. Keinesfalls verkommen die Bewohner*innen zum Stoff für sein Buch, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Valin gibt ihnen eine Stimme und entwirft Persönlichkeiten.

Das Ergebnis ist ein 38 Kapitel umfassender schillernder Text, bestehend aus teils heiteren, teils zum Nachdenken anregenden Anekdoten und ausführlichen Reflexionen über vulnerable und demente Menschen. Tragik und Komik sind im Pflegeberuf untrennbar miteinander verbunden. Die Schilderungen aus dem konkreten Arbeitsalltag sind eindringlich. Valin veranschaulicht, welche Unzumutbarkeiten wie etwa Schichtwechsel oder das frühe Aufstehen der Beruf des Pflegers mit sich bringt. Der Ich-Erzähler Niklas versucht, mit literweise Kaffee und vielen Zigaretten den Stress zu kompensieren: „Morgens um fünf hat man keine Gesundheit, bloß irgendeinen Körper; und alles dauert drei Sekunden. Ich bin eine geschleifte Festung, ich habe keinen Willen.“

Nicht zuletzt ist dieses Buch auch eine Abrechnung mit dem Pflegesystem und der ihr innewohnenden Hierarchie. Kritik äußert der Autor schonungslos, bisweilen zynisch. Valin schildert selbst, dass Zynismus in diesem Pflegeberuf über die eigene Machtlosigkeit hinweghilft. Doch gerade dieser bissige Ton macht das Buch so erfrischend ehrlich: „Der Punkt kommt unweigerlich, früher oder später: dass man der Bewohner*innen überdrüssig ist.“ Der Ton des Textes wird gegen Ende des Buches stetig zynischer. Valin holt gar zum Rundumschlag gegen das Pflegepersonal aus: „Ableistische Einstellungen sind bei den Betreuer*innen und Pflegekräften die Regel, nicht die Ausnahme.“

Ein Haus voller Wände ist in vielerlei Hinsicht ein sehr intimer und ehrlicher Text, der nicht nur unbequem sein will, sondern es auch ist. Frédéric Valin lässt in die Abgründe einer geplagten Pflegerseele blicken. Stellenweise lässt das Buch sich gar als eine gelungene Streitschrift lesen, die zu weiteren Kontroversen Anlass geben könnte. Insofern wäre es wünschenswert, wenn es eine breite Leser*innenschaft findet, die auf dieses hierarchisierte Pflegesystem tatsächlich Einfluss nehmen und die strukturellen Probleme beheben kann. Manchmal scheint radikale Ehrlichkeit notwendig, um Aufsehen zu erregen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frédéric Valin: Ein Haus voller Wände.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
202 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783957325341

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