Sie schreibt: sorgsam, präzise und lustvoll

Ein Gespräch mit Valeria Gordeev, der Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2023

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Valeria Gordeev ist die Gewinnerin des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preises, der mit 25.000 Euro dotiert ist. Die Autorin wurde 1986 als Kind sowjetischer Immigrant:innen in Tübingen geboren und lebt in Berlin. Sie studierte zunächst Mathematik und Illustration, und lernte das Schreiben am Literarischen Colloquium Berlin und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Derzeit arbeitet sie an ihrem Debütroman, der voraussichtlich im Jahr 2025 veröffentlicht werden soll. Ihr beim Bachmann-Wettbewerb eingereichter Text „Er putzt“ über einen Mann mit Putzzwang ist Teil dieses Romans und wurde von der Jury einstimmig für seine formale Präzisionsarbeit gelobt. In ihrer Laudatio sagte die Vorsitzende der Jury, Insa Wilke, der Text öffne die Tür zu einem literarischen Raum der Hingabe und Sorgfalt. Er sei ein „Plädoyer für Empfindlichkeit, wenn es um die genaue Formulierung und um politische Absichten geht.“

Das Interview fand vor der Preisverleihung statt.

 

literaturkritik.de: Du bist am ersten Tag des Wettbewerbs mit deinem Text „Er putzt“ angetreten. Wie geht es dir jetzt, zwei Tage nach der Lesung?

Gordeev: Direkt danach war ich erschöpft, heute geht es mir aber wieder sehr gut. Der ganze Aufwand, der mit dem Wettbewerb auch im Vorlauf einhergeht, ist von außen, glaube ich, gar nicht so sichtbar. Man bekommt schon drei Monate im Voraus die Zusage, die mit sehr viel medialem Interesse und Spektakel einhergeht. Ich habe die Zeit bis zum Wettbewerb als eine etwas schwierige Wartezeit empfunden, in der ich an meinem eigentlichen Projekt, dem Roman, nur wenig und schlecht arbeiten konnte. Es ist eigentlich doppelt anspruchsvoll, hier teilzunehmen. Nicht nur, weil man die eigene Arbeit einem relativ großen Risiko aussetzt und viel von sich preisgibt, sondern auch, weil immer die Frage im Raum steht, was das eigentlich ist, dieser Bachmann-Wettbewerb.

Wie meinst du das?

Aus Autor:innen-Perspektive ist das eher eine zwiespältige Veranstaltung. Ich stand denen, die da teilnehmen, immer etwas skeptisch gegenüber und habe mich gefragt, warum die das machen. Marlene Streeruwitz sagte dazu, dass ein Konkurrenzverhältnis in der Literatur nichts zu suchen habe. Das würden wahrscheinlich die meisten Autor:innen unterzeichnen, dass das eigentlich selbstzerstörerisch und deppert ist. Aber jetzt, da ich mitmache, bin ich sehr froh darüber und würde das ein bisschen anders bewerten. Hier wird nachvollziehbar gemacht, wie sich literarische Formen und die Kritik daran gegenwärtig zueinander verhalten und das alles mit einer vergleichsweise großen Transparenz. Verkaufszahlen und das Renommee der Autor:innen spielen nur eine nebensächliche Rolle. Es lässt sich verfolgen, mit welchen Argumenten Urteile über Literatur zustande kommen. Das alles halte ich für ausgesprochen wichtig. Auch die Autor:innen, denen ja eher eine passive Rolle zukommt, können sich äußern, ob im Schlusswort oder in der den Wettbewerb begleitenden Medienöffentlichkeit, und aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, dies auch zu tun.

Autorin Jacinta Nandi hat zum Beispiel in ihrem Schlusswort eine Kinderbetreuung beim Bachmann-Preis eingefordert …

Ja, das war toll. Ich möchte betonen, dass, wenn etwas bei dem Ganzen schiefläuft, das nicht an den Autor:innen liegt. Es hat sich ein starker Solidaritätsethos unter uns entwickelt und wir harmonisieren dadurch diese Schieflage, die durch das objektive Konkurrenzverhältnis entsteht. Es liegt ebenfalls nicht an den Juror:innen, auch wenn für meinen Geschmack manchmal eine Unterhaltungsökonomie zu sehr in den Vordergrund gerückt wird. Aber im Prinzip sind die in einer ähnlichen Situation wie wir. Was man vielleicht eher kritisieren könnte, sind die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs. Wir kriegen ein eher niedriges Honorar für einen zeitlich großen Aufwand. Auch wenn der ORF von großen Kürzungen betroffen ist, sollte man nicht an dieser Stelle sparen. Früher gab es zum Beispiel auch Verpflegung, inzwischen ist das weggefallen. Vor allem für diejenigen, die keinen der fünf Preise gewinnen, ist das frustrierend.

Wie kam es dazu, dass du am Bachmann-Preis teilnimmst? Und wie hast du dich dafür entschieden, genau diesen Text einzureichen?

Ich wurde schon letztes Jahr von Insa Wilke gefragt, aber damals hatte ich nur Texte parat, die zentrale Teile meines Romans sind. Da wäre mir das Risiko zu groß gewesen. „Er putzt“ ist zwar auch aus dem Roman, aber eher ein randständiger Teil und nicht so wichtig für die Erzählung. Er war noch relativ frisch, daher habe ich mich eher gefreut, dass er gerade fertig geworden ist, und war deshalb wohlwollender ihm gegenüber.

Die Beschreibungen des Putzvorgangs sind so ungewöhnlich detailliert und präzise, dass man sich fragt, ob da viel von dir selbst drinsteckt – beziehungsweise, ob du viel putzt.

Im Gegenteil, ich bin eigentlich eher ein Chaot. Ich bin in einem unordentlichen Zuhause aufgewachsen und habe das als Kind schon immer auch von außen gesehen und diese Defizite im Blick gehabt. Ich glaube, das ist es, was ich für diese Geschichte anzapfen konnte. Aber auf sprachlicher Ebene kann ich durchaus an das ‚Putzen‘, also das Sorgfältige anknüpfen. Mich stört es, wenn im Schreiben nicht der exakt richtige Begriff für ein Ding verwendet wird. Das stört die Erzählfiktion, weil ich das dann als Leserin in meiner Gedankenwelt selbst korrigieren muss. Wenn auch komplizierte, abstrakte Dinge mit dem genau richtigen Begriff getroffen werden, empfinde ich das als sehr beglückend. Aber ich kann natürlich auch andere Modi des Schreibens schätzen.

Wie hast du die Jury-Diskussion empfunden? Es gab ja sehr viel Lob von allen.

Ich dachte, es würde schlimmer werden, diese Situation auszuhalten. Ich war in dem Moment total benebelt und habe mich wie von außen selbst beobachtet. Im Nachhinein hat sich dann große Erleichterung eingestellt. Aber trotzdem ist mir doch eher in Erinnerung geblieben, was kritisiert wurde. So ist es ja leider oft. Hundertmal Zustimmung und ein Naja und dann bleibt bei einem das Naja stehen.

Allgemein hat mich gewundert, dass in den Jurydiskussionen teilweise politische Lager entstanden sind, welche die Bewertung so stark beeinflussen, obwohl das nicht direkt etwas mit dem Text zu tun hat und auch nicht das Interessante daran ist. Wie zum Beispiel bei der Diskussion um Laura Leupis Text. Man kann natürlich dezidiert politische Elemente eines Texts besprechen, aber dieses quasi polemische Abrufen von politischen Positionen oder Konflikte zwischen den Juror:innen aus Unterhaltungsgründen finde ich eher überflüssig. Das schmälert – und schmäht – die Disziplin der Literaturkritik.

Hast du etwas Neues über deinen Text gelernt?

Ich habe eher etwas über die Rezeptionsebene gelernt. Gerade wenn man als Schriftsteller:in debütiert, ist es wichtig zu merken, dass man nicht ins Leere schreibt. Dass es nicht umsonst ist. Schreiben geht so viel schneller, wenn man das Gefühl hat, dass das, was man versucht, auch gesehen wird. Die Außenwelt hat eigentlich eine total wichtige Rolle im Schreibprozess. Es hat mich sehr gefreut, dass mein Text so gut angekommen ist, auch über die Jury hinaus, auf Twitter und so weiter. Das hätte ich nicht gedacht.

Dieses Jahr wurde von der Jury besonders der Unterschied zwischen einem stillen Lesen und einem performativen Vortragen hervorgehoben, der sogar zu einer Neubewertung von manchen Texten geführt hat. Wie ging es dir damit?

Für mich hat das auch einen großen Unterschied gemacht, denn mein Text war, im Gegensatz zu anderen, überhaupt nicht zum Vorlesen geschrieben. Das ist in der Besprechung immer so eine unbestimmte Größe gewesen, ein Text als „Vorlesetext“ einzuordnen. Ich sehe es als Qualität, wenn sich beim stillen Lesen durch die Syntax und die Satzzeichen schon eine bestimmte Beschleunigung entwickeln kann, zum Beispiel. Das dann vorzulesen mit szenischer Qualität oder Figurenrede war schwierig, ich mache das sonst eigentlich nicht.

Kannst du etwas über dein Romanprojekt erzählen, in dem es laut der Webseite des Bachmann-Preises um „das Russland der Gegenwart“ geht?

Die Formulierung „Russland der Gegenwart“ klingt jetzt im Nachhinein eigentlich doch nach einem anderen Buch, wenn ich ehrlich bin. Zentral für die Handlung ist ein Forschungsinstitut in Moskau, das an der Aufbahrung des Leichnams Lenins arbeitet. Alles in einer sehr fiktionalen Weise. Das Buch habe ich noch zu anderen Zeiten begonnen, vor circa fünf Jahren. Die jüngsten Entwicklungen in Russland waren dann sehr verunsichernd. Ich habe mich gefragt, ob ich das Buch überhaupt weiterschreiben kann – auch, weil sich auf der Rezeptionsebene so viel verschoben hat, und es Diskurse gibt, in denen russische Sprache und Kultur automatisch von Gewalt durchtränkt sind. Ich habe dann gemerkt, dass die Konzeption von dem Moskau in meinem Roman sowieso schon Spuren von einem Isolationismus und von Kriegspropaganda aufweist. Ich würde sagen, das Buch passt umso mehr in die Welt von heute. Und zum Glück arbeite ich ja auch noch daran. Die Form, die ich für den Roman gewählt habe, lässt es zu, auch die Gegenwart zu verhandeln und das werde ich tun.

Ist es ein politisches Buch?

Ich denke, man kann das nicht voneinander trennen, und es ist auch nicht meine Absicht, das zu tun. Es werden darin natürlich die ganze Zeit politische Dinge verhandelt. Aber wenn es dieses Genre des politischen Buches gäbe, weiß ich nicht, ob mein Roman da wirklich hineingehören würde. Auch jetzt während des Wettbewerbs ist mir aufgefallen, dass in der Diskussion politische Inhalte und sprachliche Kunstfertigkeit oft voneinander abgegrenzt werden, und es da eine Art Genregrenze zu geben scheint. Das finde ich nicht richtig.

In deinem Videoportrait sagst du, dass man im Schreiben unglaublich viele Entscheidungen treffen muss, unendlich viele Wege einschlagen kann. Wie gehst du damit um?

Ich habe eher ein offenes Konzept, das heißt, ich lasse mich leicht von meinen Launen beeinflussen, von Informationen und sprachlichen Entdeckungen, aber auch Rechercheentdeckungen, die manchmal zu einem neuen Text führen. Ich habe also ein Schreibverfahren, das neue fremde Einflüsse zulässt. Wenn der Text eigentlich schon gut ist, ich aber plötzlich eine schöne Idee habe, die noch nicht drinsteht, kann ich sie nicht ignorieren. Sie kommt immer wieder zurück – als hätte ich etwas bewusst versteckt.

Du sagst in dem Video auch, dass du es nicht magst, wenn sich jemand klein macht, vor allem in der Literatur. Wie meinst du das?

Das mit dem Kleinmachen meine ich eher auf formaler Ebene, nicht auf inhaltlicher. Am deutschen Literaturinstitut Leipzig habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade Textstellen mit besonders schillernden Spezifika oft ein Anknüpfungspunkt für die Kritik waren, und einem geraten wurde, es doch einfach zu streichen. Das hat oft dazu geführt, dass der Text an interessanten Merkmalen verloren hat. Ich mag es, wenn, die Dinge, die mir interessant erscheinen, Platz bekommen, auch einfach auf informativer Ebene. Wenn ein Mehr an Weltmerkmalen hineinkommt, als es oft der Fall ist, entwickelt sich ein ganz eigener Sog. Ich bin weniger davon angetan, wenn in Literatur alles abgesichert und eindeutig erscheint.

Was liest du zurzeit (oder immer) gerne?

Ich bin ziemlich offen, was das angeht, und lese viele unterschiedliche Bücher, auch Genre-Literatur. Ein Vorbild für mich ist das Buch „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz“ von Irmtraud Morgner. Man merkt dem Text eine große Erzähllust an. Er ist sehr offen für erzählerische Nebenpfade, denen er sich hingeben kann. Aber auch die inhaltliche Ebene ist sensationell: Es geht um eine weibliche Troubadourin aus dem französischen Mittelalter, die nach 500 Jahren Schlaf um 1968 in der DDR aufwacht und sich den Studentenunruhen in Paris anschließen will – leider aber zu spät kommt.

Wie kamst du zum Schreiben?

Ich habe ja direkt nach der Schule Mathe studiert. Das war so eine unkreative, naheliegende Entscheidung, weil auch mein Vater Mathematiker ist. Ich habe es als ziemlich brutal empfunden, unmittelbar nach dem Schulende wissen zu müssen, wer man eigentlich sein will, und habe mich eher von den Leuten um mich herum mitreißen lassen. Auch Grafikdesgin habe ich nur gemacht, weil mein damaliger Freund Grafiker war. Mit dem Schreiben ist es dann ernst geworden, als ich einen Kunst-Master gemacht habe. Da wurde es dann sofort klar: Das Schreiben ist es. Als ich die Idee für meinen Roman hatte, habe ich zwei Bewerbungen rausgeschickt, für einen Workshop am Literarischen Colloquium Berlin und für ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, und habe von beiden eine Zusage bekommen. Das ist ein schneller Weg, würde ich sagen, um diese institutionelle Sicherheit zu bekommen; dass man das machen darf, was man macht.

Was machst du, wenn du den Bachmann-Preis gewinnst?

Ich würde die Zeit und dieses ‚Aufmerksamkeitsdepot‘ dazu nutzen, an meinem Roman weiterzuarbeiten. Dann könnte ich auch sicherstellen, dass das Buch in der Form fertiggestellt und veröffentlicht wird, die meinem eigenen Ideal entspricht.

Was würdest du anderen Schreibenden raten, die gelesen und veröffentlicht werden möchten?

Ich würde ihnen raten, sich sehr stark auf das Schreiben selbst zu konzentrieren. Die Erzählung drum herum, also die Frage nach Verlagen, Agenturen und Aufmerksamkeit, zu wichtig zu nehmen und dort seine ganze Energie hineinzustecken, ist wirklich eine Zeitverschwendung. Das kommt dann schon, wenn der Text gut und glaubhaft ist.