Max Weber als poster boy

Ein besonders schönes Bilderbuch über die Lauensteiner „Kulturtage“

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Rezensent öffnet das Buch – und staunt. Der Umschlag vermeldet: „Ein vergessenes Kapitel deutscher Intellektuellengeschichte.“ Vergessen? Hat nicht gerade diese Autorin, Meike G. Werner, Professorin für German and European Studies an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, mit einer ganzen Reihe von Publikationen seit dem Jahr 1996 dafür gesorgt, dass die Geschehnisse rund um die „Kulturtagungen“ auf der nordfränkischen Burg Lauenstein in den Jahren nach 1917 nicht in Vergessenheit geraten sind? (siehe die unten „Erwähnten Publikationen“)

Ein Verleger lud ein – und viele kamen

Vom 29. bis zum 31. Mai des Jahres 1917 fand auf Burg Lauenstein die erste „Kulturtagung“ von insgesamt drei solcher Tagungen statt, die der Verleger Eugen Diederichs aus Jena initiiert hatte. Die zweite gelang vom 29. September bis zum 3. Oktober 1917, die dritte vom 21. bis zum 25. Mai 1918.

Diese mittelalterliche Höhenburg, gelegen im thüringisch-fränkischen Schiefergebirge, ein bemerkenswertes Beispiel mitteldeutscher Renaissance, fiel 1791 an Preußen und 1803 an Bayern. Im Jahre 1896 erwarb der Burgenromantiker Erhard Messmer die völlig verwahrloste Burganlage, ließ sie renovieren und ausstatten. In diesem bis heute beeindruckenden Ensemble versammelte Diederichs einen Kreis von Gelehrten, Künstlern, politischen Schriftstellern, um sich selbst und von ihm eingeladenen Zuhörern – vor allem Mitglieder der „freideutschen Jugend“ – die Gelegenheit zu geben, über grundlegende Fragen und Anliegen zu diskutieren.

Marianne Weber, die Witwe Max Webers, informiert in der Biographie ihres Mannes (1926) über die Gelehrten Otto Crusius, Friedrich Meinecke, Edgar Jaffé, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, die Künstlern Richard Dehmel, Paul Ernst, Josef Winckler, Wilhelm Vershofen, Walter von Molon sowie über die politischen Schriftsteller und „Lebenspraktiker“ Gertrud Bäumer, Theodor Heuss, Adolf Grabowski, Hans Kampffmeyer, Karl Scheffler und Max Maurenbrecher. Als jugendliche Teilnehmer nennt sie Karl Bröger, Richard Kroner, Carl Emil Uphoff und Ernst Toller, die alle nicht nur ihr Werk bilden, „sondern eine neue soziale Epoche heraufführen wollten“. Neben Diederichs hatten zu dieser Tagung eingeladen die „Comeniusgesellschaft“, der „Dürerbund“ und die „Vaterländische Gesellschaft für Thüringen 1914“ zu einer „vertraulichen geschlossenen Besprechung über Sinn und Aufgabe unserer Zeit“. Etwa 60 Personen sind auf der Namensliste der Teilnehmer verzeichnet, die gemeinsam über Anliegen der „inneren und auswärtigen Politik, Steuerreform, Soziale Fragen und Erziehungsfragen“ reden wollten. War ursprünglich nur Marianne Weber zu dieser Tagung eingeladen, so galt letzten Endes die Einladung auch ihrem Ehemann, sodass beide gemeinsam nach Lauenstein fuhren.

Die Ostern 1917 gegründete „Vaterländische Gesellschaft für Thüringen“ fungierte als Organisator, der eigentliche spiritus rector war der evangelische Pastor und politische Publizist Max Maurenbrecher, der seit 1899 Mitglied des Nationalsozialen Vereins um Friedrich Naumann war. Er wurde später dessen Parteisekretär und Schriftleiter der wöchentlich erscheinenden Vereinsschrift Die Hilfe, in der auch Max Weber publiziert hatte. Nach der Auflösung dieses Vereins war Maurenbrecher im Jahr 1903 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beigetreten, ebenso wie Paul Göhre, der bereits im Jahr 1900 diesen Schritt getan hatte. In einem Aufsatz in der „Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur“ Die Tat hatte Maurenbrecher vor dem Lauensteiner Treffen seine Positionen formuliert.

Demnach sollte den marxistisch orientierten Arbeitern der „staatliche Realismus im Sinne Fichtes, Lists, Lassalles und Bismarcks“ vermittelt werden, „als eine höhere Stufe gegenüber seiner bisherigen Gefühlsweise“. Dies sollte bewirkt werden durch die Auslegung der Klassiker aus Literatur und Wissenschaft, um ein neues Nationalbewusstsein zu schaffen. So sollte das deutsche Geistesleben als dem in der Aufklärung wurzelnden „demokratischen Individualismus Westeuropas“ überlegen erkennbar sein. Maurenbrechers Lauensteiner Eröffnungsvortrag wiederholte diese Grundthesen, kritisierte den Parlamentarismus und plädierte für die „altpreußische Staatstradition“, wetterte gegen die „kapitalistische Mechanisierung“ und forderte einen „idealistischen Staat“, der durch eine „Partei der Geistigen“ gelenkt werden sollte.

Auf diesen vierstündigen Vortrag Maurenbrechers antwortete Max Weber am darauffolgenden Tag in schneidender Schärfe, wie das Protokoll vermerkte: „Während bisher die Debatte nicht über das Maß eines ruhigen Bekanntgebens von Meinungen und eine ebensolche Aufnahme derselben hinausgegangen war, erhielt sie nunmehr ihren ersten tiefgehenden Riß, welcher durch die Namen Max Weber und Maurenbrecher umschrieben ist.“ Die Begegnung zwischen den beiden sollte in mancherlei Hinsicht diese Lauenburger Tagung, die Maurenbrecher komponiert hatte, dominieren. Eine der vielen Folgen dieses Rede-Duells war, dass der Verleger Diederichs mit seinem Hausautor Maurenbrecher politisch brach und konsequenterweise den Vorstand der „Vaterländischen Gesellschaft“ verließ.

Für diese Tagung und insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Maurenbrecher und Max Weber verfügen wir über mehrere Aufzeichnungen von Teilnehmern. Auch Meike Werner greift erneut auf diese Berichte zurück, indem sie konstatiert, dass diese Treffen „einen festen Platz in der deutschen Intellektuellengeschichte“ haben.

Bedauerlicherweise verfügt Werners Buch über kein Literaturverzeichnis. In den Anmerkungen finden sich jedoch hinreichend Beweise dafür, dass die Lauensteiner-Tagungen auch in den bisher wichtig gewordenen Biographien Max Webers je eigene Kapitel gewidmet bekamen (Marianne Weber 1926; Joachim Radkau 2013, Jürgen Kaube 2014, Dirk Kaesler 2014). Von „vergessen“ kann also keine Rede sein.

Was neu und zu loben ist

Mit dem neuen Buch rekapituliert Meike Werner nicht nur die Geschichte dieser drei Tagungen. Sie schenkt uns darüber hinaus eine beachtliche Auswahl der insgesamt mehr als 50 Fotos, die die drei Zusammenkünfte dokumentieren. In 13 Kapiteln blättert die Autorin mit ihrer Leserschaft – besser Zuschauerschaft – durch diese Alben. Der Fotograf Alfred Bischoff aus Jena hatte im Auftrag des Veranstalters Diederichs für den Gesamtbetrag von 346,40 Mark eine beachtliche Menge von Bildern angefertigt, die in Fotomappen vor allem des Deutschen Literaturarchivs Marbach aus dem Nachlass Diederichs lagern.

Ausgewählte Fotos werden von Werner als Ausgangspunkt genommen, „um die Vorgeschichte der Tagungen, den Tagungsort, die Gegenspieler, die Zuschauer, die Frauen, die Sucher, die praktischen Reformer, die Journalisten, die Künstler und die ‚Menschen von Morgen‘ in den Blick zu nehmen.“

Auch diese Autorin vertritt die These, dass Max Weber der „unumstrittene Star“ dieser Veranstaltungen gewesen war, woraus sich offenbar die Titelgebung des Buches ergab. Wenn man die Fotos aufmerksam betrachtet, muss man einräumen, dass es wohl tatsächlich so gewesen sein muss. Diese hier gebotene „visuelle Mikrogeschichte“, erzählt durch ausführliche Bildbeschreibungen Werners, macht einmal mehr deutlich, wie sehr der charismatisch wirkende Weber andere Menschen in seinen Bann zu ziehen vermochte. Schon vor Beginn der Begegnungen hatte Ferdinand Tönnies seinem Freund Werner Sombart geschrieben: „Max Weber wird die Versammlung vielleicht etwas einseitig bestimmen. Es wird sich für uns beide doch lohnen, dabei zu sein.“

Selbst im Gruppenbild der 26 Menschen auf der ersten Tagung – darunter fünf Damen – bekommt man noch heute den Eindruck, dass der ernst blickende Weber mehr Blicke auf sich zieht als der in der Mitte stehende Veranstalter Diederichs, hinter dem der skeptisch blickende Theodor Heuß zu sehen ist. Ganz abgesehen von dem ikonisch gewordenen Foto, das Weber mit dozierender Handbewegung zeigt, der die anbetende Aufmerksamkeit Ernst Tollers auf sich zieht. Es ist zu bedauern, dass uns die Autorin ihre „Umrisszeichnung“ des Gruppenfotos vorenthält und nur auf ihre Arbeit Ein Gipfel für Morgen verweist. Wer war der breitbeinig sitzende Mann, der nicht zum Redner, sondern nachdenklich auf die Frau mit der Hochfrisur zu blicken scheint, die vor ihm sitzt? Hörten diese Menschen Max Weber zu? Er ist jedenfalls auf diesem beidseitigem Bild nicht zu sehen.

Das Buch sei allen jenen empfohlen, die sich noch nie mit den Lauensteiner Tagungen auseinandergesetzt haben. Nach der Lektüre wissen sie alles, was aktuell zu wissen ist über diesen wirren Intellektuellentraum von einer „Staatspartei der Geistigen“, der an der politischen Wirklichkeit der Jahre nach 1918 zerschellte. Aus einem autoritären „Idealstaat“, den ein völkischer Max Maurenbrecher für die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor Augen hatte – und dabei letzten Endes an die Rettung eines Königreichs Großpreußen dachte –, wurde nichts. Aber auch aus Max Webers Vorstellungen von einem gesellschaftlichem Pluralismus und wirtschaftlichen Liberalismus sollte nichts werden. Die Tagungen endeten im sinnlosen Palaver, von dem der kriegsversehrte Ernst Toller in seiner Autobiographie (1933) verbittert schrieb: „Tagelang wird geredet, diskutiert, draußen auf den Schlachtfeldern Europas trommelt der Krieg, wir warten, warten, warum sprechen diese Männer nicht das erlösende Wort, sind sie stumm und taub und blind, weil sie nie in den Schützengräben gelegen, nie die verzweifelten Schreie der Sterbenden, nie die Klage zerschossener Wälder gehört, nie die trostlosen Augen verjagter Bauern gesehen haben? […] Die Tagung in Lauenstein hat mich tief enttäuscht. Große Worte wurden gesprochen, nichts geschah.“

Das Buch von Meike Werner sei auch jenen Menschen nachdrücklich ans Herz gelegt, die viel über die Lauensteiner Tagungen wissen. Sie werden gewiss ihre Freude an diesen beeindruckend „bildphilologisch erschlossenen Fotomappen“ haben. Und sich vielleicht darüber amüsieren, dass Max Weber auf allen Fotos seine Hände in den Hosentaschen stecken hat. Und immer hat er seinen Hut auf. War er „auf der Hut“?

Wie schreibt die Autorin? „Fotoalben laden ein zum Umblättern, sie erzählen Geschichten, jedes Bild, jede Seite einzeln und als Ganzes. Aus dem anonymisierenden Dunkel von Marbachs grünen Archivkästen ausgehoben, kommt es wie von selbst zu einer Wiederaufnahme des durch die Archivierung suspendierten Gesprächs.“ Dazu lädt dieses handwerklich schön gemachte Buch in der Tat ein.

 

Erwähnte Publikationen

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. München: C.H.Beck 2014.

Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin: Rowohlt 2014.

Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Hanser 2005.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Amsterdam: Querido Verlag 1933 EA.

Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: Mohr-Siebeck 1926. EA.

Meike G. Werner, Hrsg.:Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg auf Burg Lauenstein. Göttingen: Wallstein 2021. (= Marbacher Schriften NF Bd. 18).

Diess.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena. Göttingen: Wallstein, 2003.

Diess. / Justus H. Ulbricht, Hrsg.:Romantik, Revolution & Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949. Göttingen: Wallstein, 1999.

Titelbild

Meike G. Werner: Gruppenbild mit Max Weber. Gespräche über die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
248 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339668

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