Reisen in die Vergangenheit
Bernadette Schoogs Debütroman „Marie kommt heim“ erzählt von Abhängigkeiten und weiblichen Lebensentwürfen
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Biografien über Reinhold Würth, Frieder Burda oder den Designer Peter Schmidt und insbesondere verschiedenen Moderationsreihen hat sich die studierte Kommunikations- und Literaturwissenschaftlerin und langjährige Fernsehjournalistin Bernadette Schoog, 1958 im niederrheinischen Wallfahrtsort Kevelaer geboren, einen Namen gemacht. Nun hat sie mit Marie kommt heim ihr Erzähldebüt vorgelegt. Ihr Erstling ist ein Roman über Erinnerung und Gegenwart, ein Generationen- und Familienroman, ein Text über das Heim- und Ankommen, eine Erzählung vom Weggehen und Loslassen sowie über Schuld und Vergebung. Marie kommt heim ist ein Text über Sehnsüchte und Ängste, über Glauben und Wunder, über Rituale und Auf- und Abbrüche, eine Erzählung über Reisen in die Vergangenheit.
Die Mitvierzigerin Marie Hagen, Buchhändlerin im südwestdeutschen Neustadt, erhält einen Anruf aus dem Pflegeheim in Josefsburg, dass es mit ihrer Mutter Elisabeth zu Ende geht. Drei Jahre hatte die Tochter die alte Frau im Heimat- und Wallfahrtsort nicht mehr besucht. Also setzt sich Marie ins Auto und tritt ihre Fahrt nach Hause an, voller Zweifel und Bedenken: ins „Ungewisse, so musste man es wohl bezeichnen, dahin, wo sie so lange nicht mehr gewesen war, wo ihr nur noch in der Erinnerung an längst vergangene Tage alles vertraut war.“ Mit der Fahrt nach Hause beginnt die Reise in dem Bemühen, „so viele Missverständnisse zu klären“. Sie will „noch einmal in den Abgrund aus Abhängigkeit und schlechtem Gewissen“ schauen, „um danach Ruhe zu finden.“
Noch bevor sich Marie konkret an die Mutter erinnert, tauchen auf der langen Fahrt erste Erinnerungen an den geliebten Vater auf: „Helle Schwaden aus Kinderlachen und Gänseblümchen Pflücken, Bilder von sich selbst an der großen warmen Hand des Vaters, zärtliche Vertrautheit und die Gewissheit, eine Prinzessin zu sein.“ Diese Kindheitsidylle wird jedoch getrübt „von Wolken aus Traurigkeit und Ohnmacht, Kälte und Weihrauch, der einem den Atem nahm.“
Denn die Mutter Elsje flüchtet sich geradezu nach dem frühen Tod ihres 14 Jahre älteren Mannes Friedrich – das Einzelkind Marie ist da gerade acht Jahre alt – noch stärker in die Arme der Kirche und der Kirchenmänner des Wallfahrtsortes Josefsburg, zumal im Laufe der Erinnerung immer deutlicher wird, dass sie sich schon zu Lebzeiten immer ausgeschlossen fühlte aus der innigen Vater-Tochter-Dyade. Klerikale Strukturen und kirchliche Rituale scheinen ihr Halt und Orientierung zu geben. Elsje ist das jüngste von elf Kindern des Josefsburger Hotelierehepaars van Leuwen, zwei Schwestern, die als Nonnen ins Kloster sollten, sterben früh, einer der Brüder, Heinrich, wird Geistlicher und macht später Karriere als Bischof in Brasilien. Bei seinen wiederholten Heimatbesuchen werden nicht nur immer wieder die Insignien seines kirchlichen Rangs in den Mittelpunkt gestellt, sondern auch Elsje, die ob ihres intensiven Bemühens um den bischöflichen Bruder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis den Spitznamen „Generalvikar“ erhält, sowie Marie, von ihrer Mutter streng angehalten, folgen kirchlichen und klerikalen Regeln und Abläufen. So muss Marie nicht nur in einem an einen Initiationsritus gemahnenden Akt die bischöfliche Soutane zuknöpfen, sondern die Mutter legt alles daran, dass sie noch vor der Erstkommunion „Frühbräutchen“ sein und die älteren Kommunionkinder in die Kirche führen darf und quasi die Aufsicht über diese erhält.
Da nicht nur Eitelkeit im Hause Hagen als Sünde gilt, wenn dem Kind eingeschärft wird: „Hinter dem Spiegel steht der Teufel“, sondern auch die körperliche Entwicklung der Tochter mit Argwohn bedacht wird, diese zudem bis zur Pubertät im Ehebett an des Vaters Platz schlafen muss, nimmt es kaum Wunder, dass Marie schnell nach dem Abitur von zu Hause aus und nach Freiburg zum Studium und in eine WG ins Elsass zieht. Gleichwohl wird sie immer auch in ihren Befreiungsversuchen vom schlechten Gewissen der Mutter gegenüber geplagt. Immer wieder sucht sie die „Muhme Angst“ in Trauerkleidung heim. Angesichts dieses double binds lässt sich Marie auf ihrer Heimfahrt Zeit, bis sie ins Pflegeheim geht. Erst nach einer Nacht im Hotel „Goldenes Kreuz“ besucht sie die Mutter, die sie zunächst nicht erkennt. Als sie jedoch kurzzeitig Marie an ihrem Bett erkennt, beginnt eine Schimpftirade, auf die Marie antwortet: „Was soll das denn jetzt alles, Mutter, warum bist Du so böse mit mir?“, worauf diese hart zurückgibt: „Böse? Ich habe den Herrgott geehrt und getan, was sich gehört. Und Du? Du nimmst Dir alle Freiheiten heraus, ob das jemanden stört oder nicht“. Von Versöhnung will Elsje in diesem Moment nichts wissen: „Aussöhnen? Worüber? Allein gelassen habt Ihr mich hier, abgeschoben, kaltgestellt, und das soll ich Dir verzeihen? So einfach geht das nicht. Und ich sage Dir, das sieht der liebe Gott nicht gerne.“
Verletzt und verärgert macht sich Marie auf den Weg ins Hotel, erhält aber von der Stationsschwester noch „einen Karton mit einigen privaten Sachen Ihrer Mutter: Tagebücher, Zettel, Notizen, kleine Schriften und ein Packen Briefe.“ Marie liest die Aufzeichnungen und Briefe. Allmählich begreift sie die Zusammenhänge und erfährt auch um die Wichtigkeit eines Bildes im elterlichen Keller, das ein Maler namens Karol gemalt hatte: Elsje und ihre Schwester Klara, deren Männer im Krieg sind, sowie Klaras fünf Kinder kommen wegen der heranrückenden Front im Krieg nach Bitkau. Dort freunden sie sich mit dem Maler und Bildhauer Karol Baum an. Als Klara in die Psychiatrie kommt und dort stirbt, kommen sich Karol und Elsje näher. Doch nach Kriegsende zieht Elsje mit den Kindern der Schwester nach Josefsburg zurück und wartet auf ihren Mann Friedrich. Nach zwei Fehlgeburten muss sich Elsje im Harz erholen. Karol besucht sie in der Kur. Erst auf dem Sterbebett offenbart Elisabeth ihrer Tochter, wer ihr leiblicher Vater wirklich ist. Marie erfüllt mit einem filmreifen nächtlichen „Ausbruch“ aus dem Pflegeheim mit Hilfe ihres früheren Schulfreundes Charly, der Mutter kurz vor ihrem Tod den Herzenswunsch, noch einmal die Gnadenkappelle zu besuchen, so dass sie, mit sich und mit ihrer Tochter ausgesöhnt, friedlich sterben kann.
Bernadette Schoogs Debüt Marie kommt heim ist ein anrührender, gut erzählter Roman in erster Linie über weibliche Lebensentwürfe, über Sehnsüchte und Hemmnisse eines Frauenlebens um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, deren Spuren und Verletzungen auch in der nachfolgenden Generation noch zu finden sind.
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