Geisterfahrten mit fliegenden Teppichen

Eva Christina Zellers ‚autofiktionaler Kunstmärchenroman‘ „Unterm Teppich“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Lyrikbänden wie Stiftsgarten, Tübingen (2002), Mütter (2006), Liebe und andere Reisen (2007), Auf Wasser schreiben (2016) oder zuletzt Proviant von einer unbewohnbaren Insel (2020), um nur ein paar Titel zu nennen, hat sich die 1960 in Ulm geborene und seit vielen Jahren in Tübingen lebende Schriftstellerin Eva Christina Zeller längst einen Namen gemacht. Nun hat Zeller, die auch Theaterstücke und Prosatexte verfasst, ihr Romandebüt vorgelegt. Unterm Teppich – die schwäbische Bedeutung von Decke schwingt immer mit – ist ein schillernder Bilderbogen über Familien- und andere Beziehungen. Der „Roman in 61 Bildern“, wie sein Untertitel genau lautet, ist ein Text über Scham, über Vater-, Mutter- und andere Rollenbilder mit autofiktionalen Elementen eines modernen Kunstmärchens. Zellers Romandebüt ist zugleich eine in 61, meist sehr kurzen Kapiteln, geknüpfte Erzählung über (vornehmlich weibliche) Sexualität. Unterm Teppich ist zudem eine faszinierende Hommage an Träume, an das Schreiben, an die Literatur, an das Wort.

Die beiden Motti von Annie Ernaux „Die Scham ist die letzte Wahrheit“ und der Satz „Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war“ von Eugen Ruge nennen die Leitfäden dieses kunstvoll geknüpften Textgewebes. Zwischen dem ersten Bild unter dem Titel „Die Verfolgung“ und dem 61. Bild, dem „Plädoyer für Träume“, erzählt die Pfarrerstochter Eva Christina Zeller von Momenten der Scham, von Momenten des Auf- und Ausbruchs, von Wahlverwandtschaften über Länder- und Altersgrenzen hinweg, von Körperlichkeit und Kunst.

Zwischen teilweise auf den Tag genau datierten Erinnerungssequenzen und überzeitlichen Märchenelementen – Der kleine Muck von Wilhelm Hauff oder Die Sterntaler oder Hänsel und Gretel der Brüder Grimm und andere Versatzstücke tauchen auf –, mit mythologischen (Penelope oder Medusa erscheinen im Text) und theologisch-liturgisch-literarischen Spiegel-Bildern wird Unterm Teppich ein prismatisches und magisches Textgewebe, das Verborgenes freigibt und zugleich verbirgt: „Ich habe mich am 20.10.2007 verfolgt“ lautet der erste Satz des ersten kleinen Bildes und schließt mit den Worten: „So eine Person kann man nur hinter sich lassen“, während das Schluss-Bild „Plädoyer für Träume“ mit dem Satz beginnt „Ich habe meine Träume befragt, ob ich die Geschichten, die da unterm Teppich hervorgekehrt wurden, diese Hervorkehrungen, aufschreiben soll, denn immerhin seien sie doch nicht zufälligerweise unten den Teppich gekehrt worden“, um dann mit der lakonischen Feststellung zu enden: „Dem Traum war das egal“.

Zellers Unter dem Teppich-Geschichten sind ‚Geisterfahrten‘ der Erinnerung im Bewusstsein der Teppich-Text-webenden (meist Ich)-Erzählerin: „Ich traute meiner Erinnerung nicht“ und dem Wissen darum, dass „die Erinnerung (…) der beste Schriftsteller“ ist, wie es im sechsten Bild unter dem Titel „Die Erinnerung ist ein Geisterfahrer“ heißt.

Assoziativ folgen,Traumbildern verwandt, Erinnerungssplitter auf Erinnerungssplitter, oft mit Momenten der Schuld und der Scham verbunden. Ob schon vorgeburtlich, als das Ungeborene dafür verantwortlich sein soll oder sich später verantwortlich macht oder dafür gemacht wird, dass die Mutter nie den Führerschein macht, oder als das zweijährige Kind im dritten Bild „Das Töpfchen“ vor den Augen der Brüder ins „Töpfchen“ machen soll: Immer wieder wird der Teppich quasi zur Bühne. Ob sich das fünfjährige Kind selbst mit dem Besen auf den nackten Po schlägt oder zu schlagen versucht und dabei von einem „meiner Brüder“ überrascht wird, oder ob der Vater „in seinem schimmernden, gestreiften Schlafanzug“, aus dem aus „dem Eingriff“ die Haare „herauslugten“, als er auf sie einschlug oder seine Tochter unvermittelt nackt fotografiert: Immer wieder sind es Scham und Schmerz, die in den erinnerten Bildern aufgerufen, festgehalten und mutig aus- aber auch zugleich stillgestellt werden. Am ausführlichsten im größten, d.h. längsten Erzähl-Bild, im Kapitel „Planken“, in dem Bekenntnis, den todkranken Freund Ulrich in der Sterbenacht allein gelassen zu haben. So ist Zellers selbstreflexives Verfahren vergleichbar dem Munch-Bild in Oslo, von dem es im Text heißt: „So deutlich sollte man seinen Schmerz nicht zeigen. Das durfte man nicht, das war peinlich und mutig zugleich.“

Sich immer wieder dieser Scham, dieser Peinlichkeit auszusetzen, macht den „Text“ zum „fliegende(n) Teppich. Sie wird damit entkommen.“ Unterm Teppich wird unter der Hand zu einem nicht chronologischen Tagebuch, von dem es heißt: „Das Tagebuch ist eine offene Form, es gibt keinen Schutz, nur den der Offenheit. Bekenne, und du wirst gerettet werden.“ Zellers Text verspricht eine solch rettende Lektüre, zumal ohnehin für den Text gilt: „Wer will schon sein eigenes Leben leben?“

Titelbild

Eva Christina Zeller: Unterm Teppich. Roman in 61 Bildern.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022.
168 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783520764010

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