Eine Reise zu den Büchern

Christopher de Hamels „Pracht und Anmut“ lässt uns staunen

Von Marc-André KarpienskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc-André Karpienski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christopher de Hamel nimmt in seinem Buch Pracht und Anmut die Lesenden mit auf eine faszinierende Reise zu zwölf herausragenden Handschriften des Mittelalters. Und wie bei einer guten Reisereportage meint man dabei zu sein, wenn de Hamel diese Handschriften inspiziert und die kleinen Details, die einem Außenstehenden niemals aufgefallen wären, vor dem Leser ausbreitet. So nimmt man teil an der Begutachtung der pergamentenen Seiten, der Inspektion der rissigen Einbände, atmet die aus konservatorischen Gründen angefeuchtete Luft und hört förmlich das Knacken der Buchrücken, wenn die Bücher aufgeschlagen werden.

Der Autor möchte das Vergnügen, das es ihm bereitet, mittelalterliche Handschriften zu betrachten, dem Leser vermitteln und dies gelingt ihm sehr gut. Auf jeder Seite spürt man die Begeisterung für die pergamentenen Zeugnisse der Vergangenheit. So hat Christopher de Hamel zwölf Handschriften ausgewählt, die zwar die mittelalterliche Epoche Jahrhundert für Jahrhundert abdecken, aber keine Gesamtübersicht über alle möglichen Themen und Stile des Mittelalters bieten. Dies ist auch gar nicht gewollt: Es geht de Hamel um subjektiv „herausragende“ Handschriften, die ihn persönlich beeindruckt haben. Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf religiösen Werken mit einem leichten Fokus auf insularen Manuskripten, aber seine Auswahl zeigt ohne Zweifel Außergewöhnliches.

Christopher de Hamel gilt als einer der führenden Experten für mittelalterliche Handschriften und versteht es auch, seine Expertise und seinen Blick für Details dem Leser nahezubringen. Hierbei liest sich der Text wunderbar leicht, sodass man sich an manchen Stellen fast schon zwingen muss innezuhalten, wenn ein Informationshäppchen eines zweiten Nachdenkens bedarf.

In den insgesamt zwölf Kapiteln erzählt de Hamel nicht nur von den Handschriften, sondern bietet auch lebhafte Schilderungen der Fund- und Lagerumstände, der Bibliotheken und der heutigen Nutzung der Manuskripte. Hierbei berichtet er ebenfalls von seinen eigenen Begegnungen mit den Handschriften und ihren Hütern. Diese persönliche Herangehensweise mag nicht nur Freunde haben, aber dieses Buch ist auch kein Fachbuch über mittelalterliche Handschriften, sondern, wie oben erwähnt, eher eine Reisereportage zu den Handschriften. So kann man den verschlungenen Wegen der Manuskripte folgen, den Diebstählen, Verkäufen, Vererbungen und Schenkungen, die die Bücher in die Bibliotheken gebracht haben, wo sie bis heute gehütet werden.

Jede Reportage erzählt Geschichten, um Stimmungen und Hintergründe zu vermitteln. So greift auch de Hamel an manchen Stellen auf „fantasievolle Spekulationen“, wie er es nennt, zurück, um manche Überlieferungslücke zu schließen und eine stimmige Narration zu erzeugen. Er verschweigt dabei die Lücken nicht, aber der mitreißende Erzählstil lässt den Leser manchmal etwas unkritisch der Erzählung folgen. Nur zu gerne möchte man manche Konstruktion glauben, auch wenn die Quellenlage eher dünn ist.

Ein Buch über das sinnliche Erleben von mittelalterlichen Handschriften kommt nicht ohne Abbildungen aus. Diese sind von guter Qualität und können durchweg überzeugen. Ein zumindest kleines Manko ist dabei, dass es darunter einzelne Abbildungen gibt, deren Rand in dem Falz des Buches verschwinden.

An einigen Stellen berichtet de Hamel von seinen Beobachtungen beim Blättern in der jeweiligen Handschrift, dem Finden von Löchern im Pergament, den Rostflecken von längst verloren gegangenen Metallbeschlägen, den Schreibfehlern und anderen Begebenheiten. Es gibt zahleiche gute textbegleitende Abbildungen im Buch, aber als Leser vermisst man manchmal doch den visuellen Eindruck gerade dieser Entdeckungen trotz der recht plastischen Beschreibung. Hier könnten Bild und Text enger verzahnt werden.

Trotz dieser Kritik ist de Hamel ein herausragendes Werk gelungen, das nicht nur mit seinen über 700 Seiten aus dickem Papier die ebenso voluminösen mittelalterlichen Handschriften imitiert – auch regt der Inhalt dazu an, länger zu lesen, als man eigentlich wollte. Wer noch nicht vom Buchfieber gepackt wurde, wird sich auf jeden Fall bei diesem Buch anstecken.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christopher de Hamel: Pracht und Anmut. Begegnungen mit zwölf herausragenden Handschriften des Mittelalters.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Müller.
C. Bertelsmann Verlag, München 2018.
752 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783570101995

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