Weltanschauliche Volten im Zeichen der Synthetischen Moderne
Hannes Gürgen monographiert Arnolt Bronnens Schriftstellerleben
Von Lutz Hagestedt
Mit Walter Hasenclever, Franz Kafka, Georg Kaiser und anderen knüpfte er an die immer mal wieder aufflammende „kritische Väterliteratur“ an. Ähnlich wie Otto Gross flüchtete er sich aus „geschlechtlicher Not“ in die Onanie. Mit Gottfried Benn und Bertolt Brecht teilte er sich in die Medienaffinität der Moderne. Mit Hans Fallada hatte er gemein, dass er bei Kriegsende 1945 kurz Bürgermeister war (Fallada in Feldberg, Bronnen in Bad Goisern). Mit Brecht inszenierte er in den zwanziger Jahren Theaterstücke, bis sie sich politisch auseinanderdividierten und der eine emigrierte, der andere affirmierte und hofierte. Wie viele heimatlos verschlagene Autoren auch, unter ihnen Bertolt Brecht und Arnold Zweig, suchte er sein Heil nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone als der späteren DDR, wo er 1959 auch verstarb.
Heute gilt sein Werk als vergessen, was sicher nicht nur mit den weltanschaulichen Volten zu tun hat, die er schlug. Aber wenn es darum geht, Autoren zu marginalisieren, ist Literaturgeschichtsschreibung nicht selten ruppig, grausam und rücksichtslos – Heinz Schlaffer hat in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur (2002) triftige Gründe dafür benannt.
Hannes Gürgen macht in seiner engagierten, gründlichen und umfassenden Gegenprobe Arnolt Bronnens Repräsentanz für eine „Synthetische Moderne“ (so das gleichnamige Konzept von Gustav Frank und Stefan Scherer) geltend, die teils auch auf Martin Lindners brillante Studie Leben in der Krise (von 1994) zurückzuführen ist, an die sich Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte (1994) anlagern lassen. Auch die Brecht-, Benn- und Jünger-Exegesen wären hier anschlussfähig (nicht nur Ernst, sondern auch Friedrich Georg Jünger betreffend), zumal die politische Radikalität Bronnens, gerade in ihren extremen Ausschlägen, einen ,synthetischen‘ Zugriff geradezu erfordert und herausfordert. Die Moderne wird hier nicht auf ihre „frühe“ oder „klassische Phase“ (circa 1890–1930) eingegrenzt, sondern um die Zeit des „Dritten Reiches“ bis zum Ende der fünfziger Jahre erweitert.
Der politischen Radikalität entspricht die gesellschaftliche, wie Bronnens homoerotische Septembernovelle (1921) belegt, die in eine soziale Katastrophe mündet: Der jugendliche Liebhaber des Lehrers Buck wird von dessen Ehefrau umgebracht, das Paar nimmt sich das Leben. Die Erzählung gleiche einer „psychoanalytischen Sozialstudie“, schreibt Gürgen, und sie fasst das Aufbegehren gegen die bürgerlichen Zwänge in ein Hell-Dunkel: Euphorie und Dystopie, Anarchie und Rollenzwang, Diskretion und Vulgarität gehen hier Hand in Hand. Die Leser dürften angewidert und fasziniert, gefordert und überfordert gewesen sein.
Überhaupt ist es nicht leicht, in dieses Œuvre hineinzufinden, das noch dazu schwer zugänglich, teils vergriffen ist oder nicht mehr aufgeführt wird. Die Preise, die auf dem Antiquariatsmarkt aufgerufen werden, sind stattlich, sofern überhaupt einmal ein Buch wie O. S., Bronnens Oberschlesienroman, in der Rowohlt-Erstausgabe angeboten wird. Schon die zeitgenössische Kritik war teils ratlos, teils vernichtend: „Ein Halbjude, der in seinen Werken die geschlechtliche Revolution predigt. Also trotz seines Romans O. S. ein Schädling für deutsches Volkstum.“ (Völkischer Beobachter, 1929)
Gürgens Hauptaugenmerk gilt zunächst aber nicht dem Romanwerk, sondern der Medienkunst Arnolt Bronnens, seinem „filmischen Schreiben“ (Napoleons Fall, 1924), seinen dramatischen Arbeiten, die aufgrund der jähen Bühnenerfolge in den zwanziger Jahren forciert vorangetrieben wurden: Anarchie in Sillian (1923), ein technikkritisches Theaterstück in der motivischen Nähe von Georg Kaisers Gas (zwei Dramen von 1918 und 1920), zielt auf nichts weniger als die Modernisierung der Bühne und „eine neue Kommunikation zwischen der Bühne und dem Publikum“. Bronnen hat sich von Brechts Intellektualität anstecken lassen – und drängt auf gesellschaftlichen Umbruch.
Ein Signum der Moderne ist ihre Plurimedialität. Bald stehen mit Fritz Langs filmischem Monumentalepos Metropolis (1926) die Zeichen auf Technikfaszination und Technikschrecken, auf „Automatisierung und Anonymisierung“ eines neuen „Typus Mensch“ an der Maschine, der von Jüngers ehrgeizigen Studie Der Arbeiter (1932) auf den Begriff gebracht wird. Ende der zwanziger und Ende der vierziger Jahre liebäugelt Bronnen mit dem Genre des „neuen Volksstücks“, einem Terrain, auf dem Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth erfolgreich sind und das in der späteren Nachkriegszeit von einer neuen Generation Autoren mit „Sittenstücken“, beispielsweise von Wolfgang Bauer, Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr, wiederbelebt werden wird.
Reparationen, Bronnens letztes Bühnenwerk in der Weimarer Republik, uraufgeführt Ende Januar 1930, das naturalistisch „den Ton und die Sorgen des Volkes“ infolge des Versailler Vertrages auf die Bühne bringen sollte, verschiebt sich konzeptionell in Richtung einer Allegorese „um Schuld und Bezahlung“, versetzt mit satirischen Slapstick-Momenten. Ist das Bronnens Antwort auf Brechts Form des Epischen Theaters?
Bronnen entwickelt eine eigene kultur- und literaturpolitische Agenda und bezeichnet sie als „Tendenz der rechten Hand“ – sie ist auch hinsichtlich des politischen Spektrums „rechts“ und „tendenziös“, wobei vom Sujet her keine Notwendigkeit dazu bestünde: Denn wozu braucht es bei einem Monodrama, das einen antiken und einen modernen Welteneroberer und Gipfelstürmer erzählt (einen doppelten Alexander gewissermaßen), eine Tendenz? Vertraut Bronnen seinem Text nicht? Jedenfalls entwickelt er in ausufernden Nebentexten eine kinodramatische Bühnenästhetik diverser Licht- und Schattenspiele. Haben sie dem Publikum eingeleuchtet? Wie es scheint, ist Bronnens Avantgardekunst deutlich schwerer vermittelbar als Brechts schlagend-überzeugende – pardon – „Menschlichkeit“ und Triftigkeit. Wo Brecht verblüffend einfach ist, ist Bronnen „doppelschichtig“, wo Brecht populistisch wird, wirkt Bronnen akademisch – er kontert Brechts Direktheit mit Verstiegenheit.
Der opulente Band versteht sich als Werkmonographie und bietet im Anhang eine Bibliographie von 180 Seiten. Zahlreiche, hier teils zum ersten Mal veröffentlichte Fotografien, darunter etliche Szenenbilder von Inszenierungen für die Bühne, für den Rundfunk und den Film, akzentuieren Bronnens Medienpräferenz. In seiner Spätphase als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik findet Bronnen zum Zeitstück der zwanziger Jahre zurück und behandelt aktuelle Themen wie die Ärzteflucht oder die Hypothek des Nationalsozialismus.
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