Ein „Urenkel der deutschen Aufklärung“
Kästner und Lessing
Von Dieter Lamping
Über seine literarischen Vorbilder hat Erich Kästner seine Leser kaum im Zweifel gelassen. Er hat sie bei Gelegenheit selbst erwähnt, etwa 1950 im Vorwort zu Kurz und bündig. Einer von ihnen war, auch damals, Lessing. Schon der Leipziger Germanistik-Student hatte sich in sein Werk vertieft. Seine Doktorarbeit wollte er über die Hamburgische Dramaturgie schreiben. Doch sein Doktorvater Albert Köster nahm sich das Leben, und der Doktorand verzettelte sich. Am Ende stand er mit einem Koffer voller Notizen da. Er suchte sich einen neuen Betreuer und ein neues Thema, das historisch nahelag: Die Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift „De la littérature allemande“. Mit der Arbeit wurde er 1925 promoviert.
Eine Abkehr von Lessing bedeutete sie nicht. Gegenwärtig ist er noch in Kästners erstem Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von 1931. Stephan Labude, Fabians Freund, reicht eine Habilitationsschrift über Lessing ein. Als ihm fälschlich zugetragen wird, dass sie abgelehnt werde, nimmt er sich das Leben. Fabian richtet eine kleine Ansprache an den Freund auf dem Totenbett, in der er ihn mit Lessing vergleicht:
„Siehst du“, sprach er zu Labude, „das war ein Kerl“, und er wies mit dem Daumen hinter sich. „Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel ein Schleppsäbel. Der war zum Kämpfen da, du nicht. Der lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht privat, der wollte nichts für sich. […]“
Ähnlich hatte Kästner Lessing schon in dem Gedicht gezeichnet, das er 1929 zum 200. Geburtstag des Aufklärers geschrieben hatte und sieben Jahre später noch einmal veröffentlichte:
Lessing
Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung,
doch um zu dichten schrieb er nie.
Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung.
Er war ein Mann und kein Genie.
Er lebte in der Zeit der Zöpfe,
und er trug selber seinen Zopf.
Doch kamen seitdem viele Köpfe
und niemals wieder so ein Kopf.
Er war ein Mann, wie keiner wieder,
obwohl er keinen Säbel schwang.
Er schlug den Feind mit Worten nieder,
und keinen gab’s, den er nicht zwang.
Er stand allein und kämpfte ehrlich
und schlug der Zeit die Fenster ein.
Nichts auf der Welt macht so gefährlich,
als tapfer und allein zu sein!
So steht das Gedicht in Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke, die 1936 in der Schweiz verlegt wurde, weil der Autor in Deutschland Veröffentlichungsverbot hatte. Das Gedicht ist eine gekürzte Version des Geburtstagsgedichts, das es wiederum schon in zwei Fassungen gab. So, wie es zuerst erschienen war, am 20.1.1929 in der Neuen Leipziger Zeitung, deren Feuilleton-Redakteur Kästner damals war, hatte es noch sieben statt vier Strophen, in der, die am folgenden Tag in Montag Morgen veröffentlicht wurde, sogar acht.
Gestrichen hat Kästner für die Buchausgabe die Verse, die ausdrücklich einen Bezug zur Zeit ihrer Entstehung herstellten und das zwiespältige Verhältnis seiner Zeitgenossen zu Lessing auf den Punkt brachten:
Jetzt legen sie sich fast der Quere
und weinen sich die Äuglein rot.
Doch wenn er noch am Leben wäre,
dann schlügen sie ihn heimlich tot.
Das mag provokant gewesen sein – große Verse sind es nicht. Hinzu kam, dass sich die Zeiten inzwischen, in Deutschland, geändert hatten.
Auffälliger ist, dass Kästner die Strophe über Lessings „Programm“ strich:
Er rang sein Leben lang um Klarheit.
Das war sein einziges Programm.
Er respektierte nur die Wahrheit
und stand vor Kreuz und Thron nicht stramm.
Dass Kästner diese Strophe tilgte, mag nicht nur daran gelegen haben, dass auch ihm die letzte Zeile nicht gelungen erschien. „Kreuz und Thron“ waren 1936 bedeutungslos geworden. Die neuen Machtverhältnisse waren mit diesen Metonymien nicht mehr zu fassen.
Die Buchversion des Gedichts ist nicht nur kürzer, sondern auch konzentrierter als die beiden Zeitungsversionen. Ihr Stil ist durchgehend sentenziös, verdichtend und zuspitzend zugleich: Jede Strophe strebt auf eine Pointe zu. In sechzehn Zeilen spielt Kästner im Kästner-Ton sein rhetorisches Repertoire aus: Antithese und Negation, Wortspiel und Metapher, Wiederholung und Variation – kurz und bündig belehrend.
Porträtgedichte, zumal solche über andere Autoren, sind selten in seinem Werk. Mit Lessing hat Kästner eine anspruchsvolle Variante gewählt: Er erzählt nicht aus dem Leben des Porträtierten, bezieht sich auch nicht erkennbar auf ein bekanntes Werk. Stattdessen versucht er, ihn als geistige Gestalt in seinen markantesten Zügen zu charakterisieren.
Schon in den ersten Versen macht Kästner allerdings deutlich, dass es ihm nicht um ein Dichter-„Genie“ geht. Gleich zweimal nennt er Lessing vielmehr im Folgenden schlicht und pathetisch zugleich einen „Mann“. Gemeint ist damit wohl der Erzieher („Er fand die Richtung“), der Rationalist („ein Kopf“), der literarische Kämpfer („Er schlug den Feind mit Worten nieder“). Kästners Lessing ist ein denkstarker und wortmächtiger Autor im Widerspruch zu seiner Zeit, ein Schriftsteller mit Haltung, ein Talent und ein Charakter zugleich.
Die Summe dieser stichwortartig-knappen Kennzeichnungen zieht die letzte Strophe. Sie charakterisiert Lessing, wieder in einfachen, aber gewichtigen Worten, als „ehrlich“ und „tapfer“ – mit Eigenschaften des Menschen also, die gleichermaßen den Schriftsteller ausmachen. Kühn ist die metaphorische Formulierung, er habe „der Zeit die Fenster“ eingeschlagen. Nicht durch die Tür betritt Kästners Held das Haus der Zeit, sondern die Scheiben schlägt er ein, um frischen Wind hineinzulassen: Lessing also als ein Mann zwischen zwei Zeiten, ein Neuerer, der die Ruhe seiner Zeitgenossen stört.
Die beiden Schlussverse des Gedichts, die dem besonderen Fall eine weitere Sentenz abgewinnen, deuten auf eine neue Aktualität hin: der einsame, aber unerschrockene Kämpfer als Vorbild. Das Lob ist 1936 auch ein heimliches Bekenntnis gewesen – und eine versteckte Zeitkritik. Die Tapferkeit, die Kästner offenbar bei anderen Genossen seiner Zeit vermisste, mag auch die sein, die einem Labude fehlte, der sich einer abgelehnten Qualifikationsschrift wegen das Leben nahm.
Lessing ist mehr als ein Porträtgedicht. In das Porträt hat sich der Porträtist diskret selbst eingezeichnet – entgegen seinem Epigramm Unsanftes Selbstgespräch aus Kurz und bündig:
Merk dir, du Schaf,
weil es immer gilt:
Der Fotograf
ist nie auf dem Bild.
Zugleich wird aber in Lessing, nicht weniger hintergründig, auch die historische Zeit des Porträtisten evoziert. Das Gedicht gerät Kästner zur eigenen Standortbestimmung in finsterer Zeit.
Sie behielt für ihn über den ursprünglichen Anlass hinaus ihre Gültigkeit. Wenn Kästner über Kästner sprach, nach dem Krieg in der Schweiz, dann ging in seine Selbstdarstellung vieles ein, was er, vor dem Krieg, über Lessing geschrieben hatte. Das gilt besonders für die zentrale Passage seiner Selbstcharakteristik:
Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten „Tiefe“, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.
Das ist, 1949, zum eigenen 50. Geburtstag geschrieben und gesprochen, das Selbstverständnis dieses Lessing’schen Wahlverwandten.
Kästners Sätze über sich sind oft zitiert worden, weil sie glänzend formuliert sind – und fast nebenbei auch eine Probe seines Stils geben – und weil sie treffend sind: In ihnen ist er wiederzuerkennen. In ihrem Licht erscheinen seine Gedichte von 1929 und 1936 als Porträt und Programm, als Bekenntnis und Selbstermunterung – als Auskunft auch in eigener Sache. Seine Rede über sich selbst, 20 Jahre später, aber verrät, auch wenn er nicht genannt wird, dass Lessing, der „Mann“ und der „Kopf“, für ihn eine Orientierungsfigur blieb.
Hinweise
Die Zitate folgen der Ausgabe:
Erich Kästner: Werke. Hg. von Franz-Josef Görtz. München, Wien 1998.
Band 1: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann, S. 232-233 sowie S. 450-451 und S. 273.
Band 2: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke, S. 326-327.
Band 3: Möblierte Herren. Romane I. Hg. von Beate Pinkerneil, S. 162.
Eine frühere, kürzere Fassung der Gedichtinterpretation ist 2012 in der Frankfurter Anthologie der FAZ erschienen.