Den Klimawandel verstehen: eine „feuerhistorische“ Analyse
Peter Sloterdijk legt mit seiner sprachmächtigen Publikation „Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung“ eine alternative Ideen- und Menschheitsgeschichte vor
Von Marcel Baumann
Peter Sloterdijk geht mit seiner Geschichte der Feuernutzung zurück bis Prometheus. Nach der griechischen Mythologie war Prometheus ein Gott und entstammte dem Göttergeschlecht der Titanen. Prometheus brachte der Menschheit das Geschenk des Feuers. Dafür wurde er von Zeus bestraft: Prometheus wurde an einen Felsen gekettet und ein Adler aß jeden Tag ein Stück seiner Leber.
Peter Sloterdijks Ausgangspunkt ist eine Aussage von Karl Marx, der die menschliche Arbeit als einen „Prozess zwischen dem Menschen und der Natur“ definiert hat:
Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff […] anzueignen.
Auf dieser Grundlage zeichnet Sloterdijk das Bild einer neuen Weltgeschichte. Die Geschichte der „bisherigen Menschheit“ ist die „Geschichte von Applikationen des Feuers“.
Am Beginn der Menschheitsgeschichte wird das Feuer zur „Manipulation von Nahrungsmitteln“ verwendet. Es geht um die Jagdbeute und um die „Verwandlung von rohem Korn in Brot“. Die Jäger und Sammler, die Fischer und Krieger sind aber zu schwach, um die Reproduktionskraft ihrer Beutetiere und die Wachstumszyklen ihrer vegetativen Umwelten zu zerstören. Die negative Dynamik bezogen auf die Feuergeschichte als Geschichte des Klimawandels setzt mit dem Ende der Prähistorie ein, als die Menschheit zur „folgenschweren Entdeckung“ gelangt, dass man nicht nur Tiere jagen kann, sondern es auch eine „menschliche Beute“ als Option gibt: Damit wurde die Sklaverei etabliert. Sklaven waren demnach die ersten Kraftmaschinen. In diesem Sinne beginnt die Geschichte der mechanischen Kraftanlagen nicht mit den Wassermühlen des Mittelalters und den Windmühlen und auch nicht mit den Dampfmaschinen, sondern mit dem „Einsatz von humanoiden Biomaschinen als muskelbewegten und befehlssensiblen Erzeugungen von gewünschten Effekten“.
Das Kapitel „Der Mythos der Freiheit und die pyrotechnische Zivilisation“ beginnt damit, dass Sloterdijk die berühmte These von der Dialektik der Moderne ausdrücklich bekräftigt bzw. bestätigt: „Es gehört zu den bevorzugten Mythen der Moderne, sich ihre eigene Geschichte als einen fortschreitenden Befreiungsprozess zu erzählen“. Adorno und Horkheimer hatten es folgendermaßen ausformuliert: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“
In Sloterdijks feuerhistorischer Analyse öffnet sich im späten 17. Jahrhundert mit den innovativen Verbrennungsmaschinen, die die sogenannte „Dampfkraft“ in kinetische Energie umsetzen, ein neuer Horizont: „Mit einem Mal schien es nicht mehr wahr zu sein, dass man einen Baum nur einmal fällen und seine Scheite nur einmal verbrennen konnte.“ Dieser neue Horizont besteht darin, dass aus der Tiefe der Erde unzählige Bäume an die Oberfläche steigen, die man immer wieder verbrennen kann und die immer wieder nachwachsen. Sloterdijk verwendet hierfür den wunderbaren und ausdrucksstarken Begriff vom „unterirdischen Wald“ (in Anlehnung an ein Buch von Rolf-Peter Sieferle). In diesem unterirdischen Wald werden versteinerte und verflüssigte „Hyper-Urwälder“, die zum Teil uralt sind, im industriellen Hier und Jetzt durch unzählige maschinentreibende Feuer aktualisiert. Sloterdijks Schlussfolgerungen führen ihn zu einer deftigen und „feuerfesten“ Sprache:
Was wir für die modernen Zivilisationen halten, sind „in Wirklichkeit“ Effekte von Waldbränden, die die Heutigen in den Relikten des Erdaltertums entzündet. Die moderne Menschheit ist ein Kollektiv von Brandstiftern, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen.
Wir sind alle Brandstifter!
Auf den weiteren Wegstrecken der feuerhistorischen Analyse landet Sloterdijk kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts bei James Watt und den britischen Dampfmaschinen, die von Zeitgenossen treffenderweise als „Feuermaschinen“ bewundert wurden. Aus der Dampfmaschine ergibt sich, dass die Definition der Moderne erneut ergänzt werden muss, nämlich durch die Beobachtung, dass „die intelligente Manipulation kraftbewegter Körper eine zunehmend größere Rolle spielt“.
Der Beginn der Industrieepoche führt Sloterdijk schließlich zu Prometheus und den Analysen des Philosophen Günther Anders. In seiner berühmten Studie Die Antiquiertheit des Menschen: Über die Seele in der zweiten industriellen Revolution hat Anders unter anderem die Theorie der „prometheischen Scham“ entwickelt. Prometheus muss mit einem Mal erkennen, dass er Grund hat, beschämt zu sein. Denn Prometheus hat das, was die Menschheit aus dem Feuergeschenk gemacht hat, so nicht gewollt. Sloterdijk formuliert (zurecht!) eine sehr positive Wertschätzung für Günther Anders, dem er zugesteht, eines der „kritischen Grundworte der späteren Moderne“ ausgesprochen zu haben: Prometheus schämt sich. Prometheus hat allen Grund zur Scham, denn das Feuer, das er den Menschen geschenkt hat, hat sich als fatales Geschenk erwiesen, das selbstläufig sich ins Unabsehbare steigert. Die Konsequenzen sind fatal: Die Undankbarkeit der Beschenkten macht sich als Weltmacht eigener Art geltend. Während Anders von der „Antiquiertheit des Menschen“ sprach, analysiert Sloterdijk den „pyrotechnisch ermächtigten Menschen“, der unendlich größere Mengen an Brennstoffen ins Feuer wirft.
Wir blicken deshalb unweigerlich gemeinsam in den Abgrund: „Die Wolken verdichten sich so sehr, dass sie den Bestand der Welt, wie Götter und Menschen sie bisher kannten, im ganzen in Frage stellen.“
Die moderne Welt ist aus der feuerhistorischen Perspektive im Wesentlichen gekennzeichnet durch Ausbeutungsverschiebungen. Die „kompakte Diagnose“, die sich nach Sloterdijk ergibt, führt zur Erkenntnis, dass die summierten Effekte der Ausbeutungsverschiebung in der „fossilenergetischen Ära“ die rationalen Erfordernisse des „försterlich-nachhaltigen Wirtschaftens“ nicht erfüllen. Für Prometheus ergibt sich daraus ein notwendiger Übergang von der Scham zur Reue: Der Titan kommt zur Ansicht, dass er den Menschen das Feuer besser nie überbracht hätte und so die „pyrotechnische Ermächtigung“ verhindert hätte. Aus der „prometheischen Reue“ ergibt sich wiederum die zentrale Frage des Essay, was an die Stelle der Abfackelung der unterirdischen Wälder treten könnte. Doch wir haben keine beruhigenden Antworten oder neue Weisheiten auf Lager:
Das Erlöschen des Mega-Feuers wird auch in den kommenden Jahrzehnten verhindert durch den Kohlehunger von Großnationen wie China, Indien und den USA sowie zahlreicher Schwellenländer.
Sloterdijks feuerhistorische Analyse folgt nicht zuletzt mit Blick auf den Klimawandel dazu, dass die Menschheit über die Scham hinauskommen muss. Den Klimawandel aus einer feuerhistorischen Sicht zu Ende zu denken, bedeutet, dass der Scham ersetzt werden muss durch aktive Reue. Genau in diesem Sinne ist Sloterdijks Essay kein naives Hoffnungsplädoyer, es ist keine Anleitung zum „neuen“ oder „anderen Denken“ – oder ein neuer „Weckruf“. Es ist auch kein Aufruf zum Protest oder zum zivilen (Feuer-)Ungehorsam. Sloterdijk erhebt keine Ansprüche – auch keine zu hohen.
Der Essay ist alles in allem mehr als „nur“ lesens- und empfehlenswert. Sloterdijk liefert uns nicht nur einen neuen Blick auf alte Phänomene. Es ist keine Übertreibung, seine Analyse als ideengeschichtliche Pflichtlektüre beim Nachdenken über den Klimawandel zu betrachten. Sloterdijk kommt ohne moralische Übertöne und ohne anstrengende Belehrungen aus. Seine Analyse lädt vielmehr ein zur Selbstreflexion und zur Selbstkritik.
Sloterdijk ist gewohnt sprachmächtig und schafft es, mit einem rhetorischen Feuerwerk, uns allen das Feuer (neu) zu erklären. Der Essay endet mit einer eindringlichen Mahnung: „Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!“
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