Was kann und möchte man noch machen, was weitergeben, wenn der Tod ganz nah ist?
Bernhard Schlinks eindringlicher Roman „Das späte Leben“
Von Martin Gaiser
Was macht ein gutes Leben aus? Wer kann das beurteilen? Und gibt es so etwas wie Qualitätskriterien für das Leben? Möglich, dass sich diese und viele weitere Fragen, die durchaus große Dimensionen annehmen und an schwerwiegende Lebensthemen rühren können, durch die Lektüre von Das späte Leben, Bernhard Schlinks neuem Roman, bei seiner sicherlich zahlreichen Leserschaft entstehen können. Das Buch, das viele Aspekte nicht nur eines Lebens in den Blick nimmt, hat das Zeug dazu, Grundlegendes bei einem selbst in Bewegung und ins Nachdenken zu bringen.
Martin ist 76 Jahre alt, pensionierter Jurist mit einigen erfolgreichen Veröffentlichungen und diversen Projekten für die nächste Zeit. Verheiratet ist er mit der etwa 40 Jahre alten Ulla, die, ursprünglich vom Land und von der Landwirtschaft kommend, ihr Leben sehr stark verändert hat und inzwischen als Malerin mit regelmäßigen Ausstellungen und eigenem Atelier erfolgreich ist. Zusammen hat das Paar einen Sohn, den sechsjährigen David, der im Spätsommer eingeschult werden wird. Auch wenn es keine Nennung des Handlungsortes gibt, kann man davon ausgehen, dass der Roman in einer Großstadt in Deutschland spielt, Schlink selbst (Jahrgang 1944, Jurist) lebt in Berlin. Es ist Frühling, Martin erhält von seinem Arzt die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Abends, er hat sich einigermaßen von dieser schockierenden Nachricht erholt, berichtet er Ulla bei offenem Feuer und Rotwein davon. Auch sie fängt sich recht schnell und schon bald machen beide, jeder auf seine individuelle Weise, Pläne für die allernächste Zeit.
Da ist natürlich das gemeinsame Kind, das Martin weiterhin zum Kindergarten bringen und von dort abholen möchte. Außerdem plant er, ganz rationaler Geist, dass die sechs Monate, von denen der Arzt gesprochen hat, zur Hälfte Monate des Glücks und Monate des Pechs sein werden. Die Monate des Glücks, also des aktiven Lebens, gliedert er wiederum in zwölf Wochen, die er möglichst sinnvoll nutzen und ausfüllen möchte, weswegen er fachliche Projekte wie Gutachten und Vorträge streicht, auch ein Termin zur Zahnprophylaxe scheint ihm nicht mehr notwendig. Ulla, die vor langer Zeit einen Film gesehen hat, in welchem ein Mann im Angesicht des nahen Todes seinem noch nicht geborenen Kind etwas hinterlassen möchte, will ihren Mann motivieren, Ähnliches für David zu machen. Und so kommt es, dass Martin einen Brief an seinen Sohn beginnt, in den er möglichst viel reinpacken will, um seinem Sohn etwas von sich zu erzählen und ihm etwas weiterzugeben. Außerdem unternehmen Vater und Sohn eine Wanderung mit Hotelaufenthalt und einigen Herausforderungen. All dies geschieht immer vor dem Hintergrund des sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes. Und so ist das Buch in drei Teile gegliedert; den Einstieg in Familie, allgemeine Umstände, die Krankheit. Den Mittelteil mit Aktivitäten, Auseinandersetzungen und Vorbereitungen. Und den kürzeren Schlussteil mit letztem Urlaub und Klärung offener Fragen.
Bernhard Schlink verhandelt auf 240 Seiten vieles, was in einer solchen Familienkonstellation möglich ist, weswegen der Roman auch sehr gut als Versuchsanordnung funktioniert, da er einen Dreigenerationenhaushalt entwirft, der dem Autor die Möglichkeit bietet, das Sterben, das Leben hin zum Sterben und all die damit verbundenen Fragen, Ängste, Fluchtbewegungen, Auswege anzusprechen. Er macht das auf sehr ruhige, manchmal beinahe behäbige und etwas altbackene Weise (so verwendet er zum Beispiel den nicht mehr gebräuchlichen Begriff „Taxe“ für ein Taxi). Doch dann, schließlich hat er vor weit mehr als 30 Jahren seinen ersten Krimi veröffentlicht, zieht er das Tempo an, geht tatsächlich in das Genre zurück, in dem er mit seiner Figur Gerhard Selb einige Bücher lang erfolgreich war: Martin beauftragt einen Privatdetektiv, weil es so einiges herauszufinden gilt, bevor der Krebs ihn zu sehr einschränkt.
Hier ist ein souveräner Autor am Werk, der es perfekt versteht, Argument und Gegenargument auszuformulieren. Wir verstehen Ullas und Martins Positionen, die plausibel und verständlich sind, und müssen für uns selbst einen gedanklichen Weg finden, da der Autor keine wohlfeilen Lösungen anbietet. Er zeigt die Spektren von Gefühlen und Vernunftaspekten, dringt tief ein in die Ohnmacht seiner Protagonisten und verliert darüber nicht den Erzählfluss aus dem Blick. Das späte Leben ist bei aller Dramatik ein, ja, schönes Buch über die letzten Dinge, denn – und das deutet bereits der Titel an – es ist ein bejahendes Buch, das eben nicht mit dem „Tod“, sondern dem „Leben“ überschrieben ist. Und dieser Roman bietet Leserinnen und Lesern viele Ansätze für eigene Gedanken und Gespräche und Diskussionen, es ist ein Buch, das nicht zu Ende ist, wenn es ausgelesen ist.
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