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Aufsätze zur Fremdheitsforschung am Beispiel europäischer Reisender nach England und Irland

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorworte besitzen in der Regel eine Doppelfunktion: Sie sollen über den Inhalt eines Buches informieren und zugleich um die Gunst des Lesers werben. Dabei gehört es schon lange zum topischen Inventar der captatio benevolentiae, sich für die mangelnde Qualität oder gar die Tatsache der Publikation beim Publikum zu entschuldigen und die eigenen Absichten mit dem Gestus größtmöglicher Bescheidenheit herunterzuspielen. Der von so viel Demut wohlwollend gestimmte Leser geht jedoch davon aus, dass es ganz so schlimm nicht kommen werde und wird dort enttäuscht, wo der Verfasser des Vorworts eben nicht tiefgestapelt hat.

Der Historiker Otfried Dankelmann präsentiert sich als Herausgeber der Aufsatzsammlung "Entdeckung und Selbstentdeckung. Die Begegnung europäischer Reisender mit dem England und Irland der Neuzeit" auf den ersten Seiten als nachsichtiger Rezensent von sechs Beiträgen, die ihm von seinen Studierenden als Früchte eines Seminars an der Universität Halle-Wittenberg abgeliefert worden waren. So sehr er auch um seine Schützlinge wirbt, sie "zu den politisch wachen Menschen unserer Zeit" gerechnet wissen will und ihre Auslandserfahrung ins Feld führt, entschuldigt er doch ihre Jugend und ihre Rolle als schreibende Debütanten, wie er auch auf einige Schwächen der Aufsätze hinweist. Der Leser kommt bei der weiteren Lektüre dann leider nicht umhin, seine Einwände bestätigt zu finden. Allzu deutlich tragen die Untersuchungen die Spuren ihrer Entstehung. An Gegenständen aus drei Jahrhunderten soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Erfahrung und Verarbeitung von Fremdheit bei ausländischen Englandbesuchern in deren Reisetexten niederschlugen oder sie gar zu persönlichen Veränderungen geführt haben. Man hatte sich zur Theoretisierung des Begriffs der Fremdheit im Seminar offenbar einst auf einige wenige Kategorien geeinigt (es sind die des Soziologen Ortfried Schäffter aus dem Jahr 1991), an denen dann auch fast alle ihr Material messen. Die Ergebnisse, die ein solches methodisches Vorgehen zeitigt, sind entsprechend begrenzt.

Versäumt der erste Beitrag von Editha Ulrich es vollends, den ausführlichen Gang durch die Theorielandschaft der "Fremdheitsforschung" mit den anschließend betrachteten Englandbeschreibungen Esther Bernards zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, so entspricht dies immerhin dem, was Dankelmann schon kurz zuvor angekündigt hatte. Dass aber Gerrit Deutschländer beispielsweise im Reisebericht Thomas Platters von 1599 kaum Persönliches findet und schon gar nichts, das für einen Persönlichkeitswandel durchs Reisen spricht, ist weniger dem betrachteten Text anzulasten als der übergestülpten Fragestellung, die hier offensichtlich am historischen Material vorbeizielt. Anders herum geht es aber auch: Ulf Hartmann bescheinigt dem von ihm betrachteten Industriespion August Alexander Eversmann, er sei durch seine zwielichtige Tätigkeit in England 1783 überhaupt erst geworden, was er sein sollte: ein selbstbewusster Unangepasster. Solche durch die Fragestellung am arg strapazierten Material induzierten Ergebnisse werden dann sogleich wieder in Schäffters Kategorientafel über mögliche Deutungen von Fremdheit eingeordnet und belegen so wenig mehr als deren universale Anwendbarkeit. Auch in den anderen Aufsätzen fallen methodische Ungereimtheiten auf: Warum Marcus Rau den Bericht des englischen Irlandreisenden Arthur Young, der sich vor allem Fragen der Landwirtschaft widmete, ausgerechnet mit dem rund 70 Jahren später erschienenen Reisebericht des Bremers Johann Georg Kohl vergleicht, bleibt undurchsichtig und wird von ihm am Ende selbst als problematisch empfunden.

Der Gewinn für den Leser besteht demnach bei fast allen Beiträgen des Buches in ihrem positivistischen Informationswert. Hier wurden Texte wiederentdeckt und Hintergrundfakten solide recherchiert, die nun für eine weitere Beschäftigung mit dem Material bereit stehen. Selbst dort, wo vornehmlich Sekundärliteratur unter einem bislang wenig beachteten Aspekt ausgewertet wurde, wie bei Harms Mentzels Beitrag über die Dialoge zwischen dem jungen Zar Peter I. und englischen Geistlichen, liegt der Ertrag im Informativen. Einzig Sebastian Kühns Analyse der Metaphorisierung Englands in 19 französischen Reisebeschreibungen aus den Jahren 1650 - 1750 vermag es, sich aus dem vorgegebenen methodischen Korsett zu lösen und selbständige - und wie man sofort merkt - spannende Wege zu gehen. So polarisiert er sein umfangreiches Material anhand der fünf Wahrnehmungsbereiche Freiheit, Wohlstand, Wissenschaft, Sitten und Charakter zwischen den Gegensätzen Karikatur und Utopie und versucht so, die wachsende Bedeutung des Konzepts des Nationalcharakters in seinem Untersuchungszeitraum als einer Ordnungskategorie von Fremdheit zu verdeutlichen und zugleich anthropologisch rückzubinden. Innovative Ansätze wie diesen hätte man sich mehr gewünscht.

Titelbild

Otfried Dankelmann (Hg.): Entdeckung und Selbstentdeckung. Die Begegnung europäischer Reisender mit dem England und Irland der Neuzeit.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
213 Seiten, 33,20 EUR.
ISBN-10: 3631350740

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