Eine vertrackte Liebesgeschichte
In Alina Bronskys Roman „Schallplattensommer“ bringt die Ankunft einer fremden Familie viel Unruhe in ein kleines ostdeutsches Dorf
Von Dietmar Jacobsen
Eigentlich regelt Maserati alles in und um die kleine Gaststätte ihrer Großmutter. Und die läuft gerade so gut, dass dem 16-jährigen Mädchen mit dem seltsamen Namen kaum mehr Zeit für sich selbst, geschweige denn für die Schule bleibt. Also ist Maserati, die den Zehnte-Klasse-Abschluss besitzt und zu den Besten in ihrem Gymnasium gehört hat, eines Tages einfach nicht mehr hingegangen. Zu tun gibt es ja genug, jetzt, wo der Sommer vor der Tür steht und das kleine Dorf irgendwo nördlich von Berlin es mit immer mehr Urlaubern zu tun bekommt, denen das Internet mit Hinweisen auf die idyllische Lage des Örtchens und nicht zuletzt auch auf die sensationellen gefüllten Teigtaschen, die in der Gaststätte der Großmutter angeboten werden, einen Erholungsaufenthalt abseits des Trubels der Städte schmackhaft macht.
Schallplattensommer ist Alina Bronskys – mehrere explizit als „Jugendbücher“ ausgewiesene Veröffentlichungen nicht mitgerechnet – achter Roman. Wer das bisherige Werk der 1978 geborenen und Anfang der 1990er Jahre gemeinsam mit ihrer Familie aus dem russischen Swerdlowsk nach Deutschland ausgewanderten Autorin kennt, wird schnell auf Vertrautes stoßen. Das beginnt beim Figurenkosmos – eine Großmutter, mal liebevoll, mal herrisch-unzufrieden, mal verletzlich-still, meist nicht ganz heimisch in der neuen Sprache und Umgebung, aber immer traditionsbewusst und die Erinnerungen an die Herkunft der Familie bewahrend, gehört fast notwendig dazu – und endet bei einer klaren Sprache, die nicht viel Aufhebens macht, sondern die Dinge benennt, wie sie sind.
Dialoge ufern nicht aus. Beschreibungen bemühen sich um Kürze und Exaktheit. Und doch wird für jede Leserin und jeden Leser atmosphärisch nachvollziehbar, in welche Welt man von Alina Bronsky hier eingeladen wird. Man riecht die Düfte der mit den unterschiedlichsten Füllungen versehenen Teigtaschen, schmeckt die in diesem Jahr besondere Süße der in einem verlassenen alten Obstgarten herangereiften Kirschen, blickt hingerissen mit der Heldin auf die Lichtreflexe, die die Sonne auf die Oberfläche des nahen Sees wirft.
Als „Meisterin der Täuschung“ – „Manchmal sprach sie fließend in korrekten Sätzen, dann schien sie wiederum die deutsche Grammatik komplett zu vergessen – vor allem, wenn sie aufgeregt war.“ – war die Oma bisher das Zentralgestirn in Maseratis Welt. Und sie ist es auch, um die sich die Enkelin die meisten Sorgen macht. Denn eine beginnende Demenz macht den Umgang mit ihr zeitweise schwierig. Und die Träume der Altvorderen, eines Tages aus der kleinen Gaststätte etwas Größeres zu machen, verlangen Maserati gelegentlich mehr ab, als die Kräfte des Mädchens herzugeben vermögen. Dass die Großmutter noch dazu bereits den passenden Mann für ihre Enkelin ausgesucht hat, nämlich den an Taubheit leidenden Georg, mit dem Maserati ein paar Schuljahre lang in der gleichen Klasse war, dem das Mädchen aber nicht mehr als freundschaftliche Gefühle entgegenbringen kann, verkompliziert ihr Leben zusätzlich. Denn der handwerklich begabte Georg, der nach dem Tod seiner Eltern ganz allein in dem kleinen Haus der Familie am See lebt, kann sich die Welt ohne sie offensichtlich nicht mehr vorstellen.
Als eines Tages plötzlich eine fremde Familie in dem Dorf auftaucht – offenbar begüterte Städter, denn sie haben eine große Villa samt dem sie umgebenden Grundstück erworben, und sorgen nun dafür, dass Tag für Tag Scharen von Handwerkern die Gegend bevölkern –, ändern sich die Dinge schnell. Denn weil Maserati „das einzige weibliche Wesen unter fünfundfünfzig im Umkreis von dreizehn Kilometern“ ist, finden die beiden Jungen, die zu der Familie der Zugezogenen gehören, sofort Gefallen an ihr. Caspar – „blondes Haar und kitschig-blaue Augen im gebräunten Gesicht“ – und Theo, ein eher blasser, dunkelhaariger Typ, der Maserati ein wenig arrogant zu sein scheint und kaum je lacht – sind keine Brüder, sondern Cousins. Und sie sorgen in den folgenden Monaten dafür, dass Alina Bronskys Heldin in einen Strudel aus Gefühlen gerät, mit denen sie in ihrem bisherigen Leben noch nie konfrontiert war.
Schallplattensommer kreist um einen jungen Menschen, der sich noch nicht gefunden hat. Maserati – nicht scheu, aber in sich verschlossen, bemüht, alles der Oma recht zu machen und darüber ein wenig die eigenen Bedürfnisse vergessend – erlebt zum ersten Mal eine Situation, in der die Entscheidung für eine Person andere brüskieren, ja ihnen Schmerz zufügen kann. Für Georg, den Jungen, der bereit ist, alles für sie zu tun, scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass er mit Maserati zusammengehört. Von der Großmutter in diesem Gefühl bestärkt, schockiert ihn die Erkenntnis, dass er für das Mädchen offensichtlich nicht mehr als ein vertrauter Freund ist. Maserati wiederum lässt es zwar zu, dass aus der anfänglichen Distanziertheit zu den beiden fremden Jungen nach und nach Interesse und schließlich sogar eine intime Begegnung mit Caspar wird. Gleichzeitig fühlt sie sich aber auch zu dem stilleren Theo hingezogen, zumal der gerade eine schmerzliche Erfahrung aus der jüngeren Vergangenheit verarbeitet und seine Mutter Annabell sich wohl wünscht, dass das Mädchen ihm dabei behilflich ist.
Dass mit Theo, der sich an eine ältere Schallplatte erinnert, auf deren Cover „ein Mädchengesicht […], dessen rechte Hälfte sich in der Dunkelheit auflöste“ zu sehen ist, noch ein weiteres, vielleicht sogar das für Maserati bedrängendste Problem in den Roman Einzug hält, ist vielleicht sogar ein wenig des Guten zu viel. Denn die Geschichte zwischen dem Mädchen, ihrer Großmutter und der extrovertierten Mutter, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ist, hätte gut für einen weiteren Roman herhalten können. Warum zwischen Enkelin und Großmutter freilich eine Leerstelle klafft, über die nicht gesprochen wird, solange die beiden unter sich sind, die aber auf unterschiedliche Weise sowohl die alte wie auch die junge Frau beschäftigt, erfahren die Leser nur andeutungsweise.
Aber das ist wohl auch das Anziehende an Alina Bronskys Schreiben: Probleme zu benennen, nicht sie zu lösen. Vieles in Schallplattensommer bleibt im Vagen. Einige Personen – etwa Annabell, die Mutter Theos und Tante Caspars – gewinnen kaum erzählerische Schärfe. Schön auch, wie das Vergehen von ein paar Monaten zwischen Frühsommer und Herbst ganz ohne Datumsangaben deutlich gemacht wird, indem Sonnenauf- und -untergänge, Wassertemperaturen, Reifezeiten von Kirschen und Pflaumen und andere Ereignisse in und um die Natur den chronologischen Ablauf bebildern. Die Autorin hat es klugerweise vermieden, ihren kleinen Liebesroman mit dem Label „Jugendbuch“ auf eine bestimmte Leserschaft hin auszurichten. Die wird sich wohl trotzdem am ehesten in einigen Figuren wiedererkennen. Und am Schluss des Buches sogar noch die Hoffnung auf ein Happy End herauslesen dürfen.
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