Unterschätzte medienpoetische Miniaturen
Fabian Goppelsröders „Kalendergeschichte, Fait Divers, Twitter“ zieht eine Bilanz der literarischen Möglichkeiten kleiner Formen in ihrem jeweiligen Medium
Von Marcus Neuert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt inzwischen etliche medienästhetische Betrachtungen zum Phänomen der internetbasierten Kleinformen wie Twitter, SMS, WhatsApp und wie sie alle heißen mögen. Diese taugten von Anfang an neben ihrer Funktion als Nachrichten-Tauschbörse auch zu allerlei literarischen Experimenten; schon früh gab es etwa SMS-Lyrik, wurde Gereimtes und Ungereimtes, Aphoristisches und Pointiertes außerhalb des rein Informativen oder des Kommentierenden transportiert. Dabei fand ein Prozess gegenseitiger Durchdringung statt – Inhalte suchen sich ihre Form, und ebenso wirkt auch das Mediale auf seine jeweiligen Inhalte zurück.
Fabian Goppelsröder, Jahrgang 1977, ist Philosoph und Historiker – also aufgrund seines Alters und intellektuellen Werdegangs kein typischer Vertreter der extrem web-affinen Generation. Sein Blick geht entsprechend einordnend zurück und stellt das digitale Medium Twitter bzw. nunmehr X in den Kontext seiner analogen Vorläufer, der Kalendergeschichte und des sogenannten Fait Divers und weist nach, dass auch bei ihnen bereits der erwähnte gegenseitige Durchdringungsprozess von Form und Inhalt wirksam war. Dabei geht es dem Autor weniger um nachrichtliche oder meinungsbildende, sondern in erster Linie um (zumeist unterschätzte) literarische Aspekte – wobei diese einander nicht unwesentlich bedingen.
Exemplarisch für die beiden älteren Formen stehen deren wohl wichtigste Vertreter im Mittelpunkt von Goppelsröders Untersuchungen: Johann Peter Hebel (1760-1826) und Félix Fénéon (1861-1944). Twitter hingegen kann schon aufgrund des fehlenden historischen Abstands nicht mit einer einzigen herausragenden literarischen Persönlichkeit in Verbindung gebracht werden. In Bezug auf diesbezüglich relevante Aspekte nimmt der Autor vor allem die beiden Amerikaner Alexander Aciman und Emmet Rensin in den Blick – und ihren 2009 berühmt gewordenen Versuch, mit einem gehörigen Schuss Ironie Weltliteratur in „Twitteratur“ zu übersetzen – sowie Jennifer Egan, die mit Black Box 2012 die erste „komplett in Tweets“ geschriebene Erzählung veröffentlichte.
Hebel und Fénéon haben gemeinsam, dass sie die vorgefundenen Medien in ihrer poetischen Wirksamkeit gewissermaßen vollendet haben. Auch hierüber kann für das Medium Twitter natürlich noch kein abschließendes Urteil gefällt werden – Aciman, Rensin und Egan sind früh aufgesprungen, haben aber allenfalls literarische Wege eröffnet, die noch lange nicht abgeschlossen sind.
Der Autor charakterisiert in drei aufeinanderfolgenden Kapiteln die wichtigsten Merkmale der drei Medienphänomene. Dabei erfährt man auch eine Menge über die Biografien Hebels und Fénéons, was Goppelsröders Ausführungen auch für interessierte Laien geeignet macht. Lediglich die vielen eingestreuten englischen und französischen Originalzitate, die nicht durchgängig übersetzt werden, stehen dem Lesefluss entgegen und offenbaren, dass das eigentliche Zielpublikum des Buches eher im kultur- und literaturwissenschaftlichen Spektrum zu suchen ist.
Wie gesellschaftsrelevant die Reflexion über Medien war und ist, mag folgendes anonymes Zitat von 1785 illustrieren, das Goppelsröder aufruft:
Ich getraue mich, aus einem Volke mit Hülfe des Kalenders zu machen, was ich will. Soll es dumm oder klug, abergläubisch oder aufgeklärt, kühn oder feig, patriotisch oder unpatriotisch werden oder bleiben? Man gebe mir nur Gewalt über seine Kalender.
Ob sich Elon Musk gar Ähnliches beim Erwerb von Twitter gedacht haben mag, darüber kann man nur spekulieren. Doch das Zitat zeigt, wie sehr auch die literarische Ausgestaltung des seinerzeit beliebten und weit verbreiteten Mediums Kalender in Form der in ihm enthaltenen Geschichten sich auf die zeitgenössische Machtbalance ausgewirkt haben mag. Hebel spielt meisterlich und volksnah mit der Kalendergeschichte in seinem Der Rheinländische Hausfreund genannten Kompendium:
Für Hebel ist nichts trivial und nichts einfach klar. Alles kann zum Gegenstand staunender Untersuchung werden. Der Hausfreund ist kein Schulmeister und kein Reporter. Er ist Besucher, Freund des Hauses. Er will nicht unterrichten, er will mit Menschen reden.
Hebels Herangehensweise umfasst drei wesentliche Aspekte, die Goppelsröder herausarbeitet: die Verpersönlichung der Sprache, die Verortung in der „lokale[n] Kosmologie“ des alemannischen Sprachraumes und der Konkretion, der expliziten Verbildlichung, die alle zu „Hebels aufklärerische[m] und zugleich konservative[m], das Doktrinäre vermeidende[m] […] Populismus“ beitragen.
Fénéons berühmt gewordene Faits Divers, eine Rubrik der Pariser Zeitung Le Matin namens Nouvelles en trois lignes, literarisieren und kommentieren Kurznachrichten: „Sein ästhetisches Gespür wie literarisches Geschick machten aus informativen Dreizeilern poetische Miniaturgeschichten.“
Goppelsröder stellt in seinen Betrachtungen vielfältige Verbindungen zu anderen Kunstformen her, weist gar unleugbar plausibel den Einfluss japanischer Haiku-Ästhetik und des zeitgenössischen Pointillismus Georges Seurats auf Fénéons Dreizeiler bei nach. In diese extrem reduzierte, ursprünglich auf ungefilterte Nachrichtenticker-Meldungen zurückgehende Form baut Fénéon effektvolle Gegensätze ein:
Der Kontrast ist nicht einfach platziert, er muss inszeniert werden. Zu diesem Zweck nutzt Fénéon alle ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen, alle rhetorischen Tricks. Sein scheinbar analytischer Stil verfolgt eine ästhetische Agenda, die sein eigenes Schreiben in die Nähe der literarischen Avantgarde der Zeit rückt.
Goppelsröder verknüpft Fénéons Verbindungen zur Pariser Anarchistenszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinem späteren Schaffen und resümiert:
Der Bruch mit willkürlich dem Individuum aufgezwungenen Strukturen ist auch charakteristisches Strukturmoment seiner für Le Matin verfassten Dreizeiler. […] Der französische Anarchismus der 1890er Jahre bildet den Hintergrund zu Fénéons Faits Divers, die pointiert Aspekte avantgardistischer Ästhetik mit politischen Überzeugungen verweben.
So vermischen sich im Fait Divers auf eigentümliche Weise Wissen und Meinung, wandelt sich die Wirkung der Nouvelles en trois lignes vom plakativ Skandalträchtigen hin zur impliziten Gesellschaftskritik: „Der 515 überfuhr am Bahnübergang von Monthéard (Sarthe) Mme Dutertre. Man glaubt an einen Unfall, obgleich es ihr sehr schlecht ging“, lautet etwa einer der Faits Divers, in welchem Fénéon unterschwellig auf die Möglichkeit eines Suizids hinweist. Das Wesen des Fait Divers sei es nach Merleau-Ponty, „in einer Falte das Antlitz einer ganzen Welt zu sehen“, wie Goppelsröder abschließend zitiert.
Vom Fait Divers hat der Tweet die unbedingte Kürze (140 bzw. seit 2017 dann immerhin 280 Zeichen, denn die ursprüngliche radikale Verknappungsabsicht stieß auf ein weitgehendes Unvermögen der Pointierung durch die Masse seiner Nutzer), von der Kalendergeschichte nicht zuletzt den Aspekt der Verpersönlichung – allerdings weniger auf ein Publikum hin als auf das twitternde Subjekt selbst. In der Literarisierung der Form kommt es nach Goppelsröder zu „eine[r] Art Verschmelzung der eigenen Person mit ihrem Twitter-Ich“, das Verfassen von 140-Zeichen-Sätzen gerät zu einem Automatismus. Gleichzeitig steht kein Tweet allein, sondern ist immer eingebettet in den digitalen Stream:
Und trotzdem reicht ein Tweet, und sei er noch so pointiert, nicht aus. Er ist als Teil des Spiels kein Solitär, sondern ein Element, ein Spielzug in einem größeren Zusammenhang. […] Im dialektischen Bezug zum potenziell endlosen Fluss […] entfalten sich die 140-Zeichen-Kürzesttexte erst eigentlich als Kleine Formen.
So stehen die drei Medienphänomene Kalendergeschichte, Fait Divers und Twitter letztlich nicht einfach nur unverbunden in drei Kapiteln hintereinander. Goppelsröder macht klar, wie sehr sich eine gemeinsame Linie der literarischen Möglichkeiten in ihnen abzeichnet: Kürze als Chance für das Konzise und die Erkenntnis, dass Skurrilität, Tempo, Witz und analytischer Tiefgang keine Gegensätze sein müssen.
Allen drei medialen Formen in ihrer jeweiligen Zeit eigen und das, was sie in ihrer Potenzialität eigentlich auszeichnet, ist Goppelsröder zufolge eine Tendenz zum Subversiven, zur permanent den Zeitgeist unterlaufenden ästhetischen und widerständigen Literaktion, um einmal einen Neologismus zu gebrauchen. Schade nur, könnte man einwenden, dass gerade X bzw. Twitter dem so selten gerecht zu werden versteht: zu viel unbedarftes Küchenpersonal verdirbt eben doch letztlich den Brei. Die Masse entwertet das Prinzip. Ist das womöglich gar eine Lehre für unsere täglichen gesellschaftlichen Interaktionen? Aber darauf muss uns Fabian Goppelsröder glücklicherweise keine Antwort geben.
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