Welch ein Gemenge: Geschichte, Gegenwart, Ferieninsel, Euthanasieprogram, Liebe und Herkunft

Laura Lichtblau macht in „Sund“ daraus einen Kurzroman

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Nachsaison – „Ich bin für alles viel zu spät dran! Jedes Schild, auf dem trotzdem noch kartoffler angeboten werden, tröstet mich.“ – an einem Sund in Dänemark mit der vorgelagerten Insel „Lykke” (Glück) sehnt sich die Ich-Erzählerin nach ihrer Partnerin, recherchiert sie die Geschichte der Familie und der Landschaft. Schon auf den ersten Seiten wird klar, das alles kippt ins Alptraumhafte: „Zum Frühstück: trockene Kekse. Zum Mittag: Orthopädie im Nationalsozialismus. Zum Abend: gebratene Panik.“ Bunker überall und wie in Walker Percys „Lost in the Cosmos“ auch ein Quiz, der deutlich macht, es geht um Existenzielles.

Laura Lichtblau beschreibt in kurzen, atemlosen Sätzen die dänische Landschaft am Sund, erzählt von den wenigen Einheimischen, die sie trifft, wie sie ihren Arbeitstisch eingerichtet hat: „Aktenordner voll mit Kopien: eine Heiratsurkunde, Briefe, Fragebögen zu Herkunft und arischer Abstammung und Entlassungsschreiben. Das Buch meines Urgroßvaters, die unterstrichenen Sätze, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Erwachsenen und Kindern, Röntgenaufnahmen von Hüften, und Stammbäume, Stammbäume, Stammbäume.“

Die Landschaft wird als unheimlich, voller Gefahren gezeichnet, und da ist die in 25 Minuten auf einer Fähre erreichbare Insel „Lykke“. Hier lebt eine sektenähnliche Gemeinschaft in einem Ferienheim, die Touristinnen und Touristen Bioprodukte und esoterische Erfahrungen verkauft. Die Erzählerin bleibt in diesem Heim, lernt die „Neue“ kennen und lieben, und erfährt nach und nach die Geschichte des Heims und der Insel. „Ich spüre einen alten, kellerigen Grusel. Aber welcher Ort gruselt nicht?, fragt die Neue mich. Wo ist nicht einmal etwas Grusliges geschehen.“

Die Neue und die Erzählerin fühlen sich auf der Insel Lykke (= Glück) zusehends unwohl und unsicher, denken an Flucht, Ihnen werden „Hexenanteile“ zugeschrieben, die „væk“ müssten. In einem weggesperrten Buch lesen sie von der 1911 gegründeten “Moorske Anstalt” auf der Insel. In ihr wurden „kleinkriminelle Männer, Männer, die in den Augen der Gesellschaft als unproduktiv galten oder homosexuell waren“, eingesperrt. Ab 1929 bestand die Behandlung aus Sterilisation und Kastration im Befolgen der Lehre der Eugenik.

Der Ort des Rückzugs um die dunklen Seiten der Familiengeschichte zu recherchieren, ist endgültig zu einem Ort geworden, in dem sich die Inhumanität, Homophobie und Grausamkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat.

Hier wechselt in diesem so kurzen und doch so komplexen Roman radikal die Form. Es ist nun der Bericht über das, „worüber in der eigenen Familie Schweigen und Unwissen herrscht“. Akten aus Archiven, Lebensläufe, wissenschaftliche Abhandlungen und Bücher liegen offen dem Text zugrunde. Der Umgang damit jetzt ganz anders, als in der Erzählung von der Insel Lykke: „kein Nebel, kein Dunst, sondern Fakten.“ Es ist augenöffnend, was die Autorin über ihren Urgroßvater und das NS-Euthanasiprogramm herausfindet. Irritierend, wie nach dem Weltkrieg das familiäre und gesellschaftliche Vergessen einsetzt. Furchtbar, wie heutzutage Menschen von den Geistern dieses Unmenschentums, wie in „Sund“ die Touristen:innen, fasziniert sind.

Der Roman, in dem ja grundsätzlich alles erlaubt ist, kann zeigen, wie Biografien Konstruktionen sind, die, so wird Katharina Trittel von Laura Lichtblau zitiert, „eine bestimmte Lesart eines Lebensweges vorschlagen“. Damit werden die Geister der Vergangenheit nicht zum Schweigen gebracht, sie verschwinden nicht in der Fiktion, nicht in der Realität. Aber sie werden als solche sichtbar. Das ist kein kleiner Verdienst. Ein Buch, das nicht zu spät dran ist, sondern höchst aktuell.

Titelbild

Laura Lichtblau: Sund.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
132 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406813771

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